Man sieht ein Gemählde als einen erläuternden Kupferstich an, der einem Buche beigefügt worden; und für jeden Beschauer der nicht die Stelle des Ge- schichtschreibers oder Dichters gegenwärtig hat, wor- aus das Süjet des Bildes genommen ist, bleibt es alsdann ein quälendes Fragment, das weder Herz noch Geist befriedigt.
Ein solcher Misbrauch ist dem Gange zuwider, den unsere Erfahrungen über das Interesse eines Bil- des zu nehmen pflegen; dem Anspruch, den auch un- gelehrte, aber von Herz und Auge gebildete, Ge- nießer der schönen Künste auf ästhetische Würkung von einem Gemählde zu machen berechtiget sind; und dem Begriff von Vollkommenheit eines Werks, die von Selbstständigkeit unzertrennlich ist. Endlich zieht dieser Misbrauch auch den Verlust einer großen und der Mahlerei eigenthümlichen Schönheit nach sich.
Der Liebhaber der in eine Gallerie tritt, sagt sich nicht: ich habe den Tacitus gelesen, ich bin doch neugierig, wie Poussin den sterbenden Germanicus wird vorgestellet haben! Nein, er sieht einen Kran- ken, der mit einer Hand auf sein weinendes Weib, auf seine jammernden Kinder zeigt, und die andere gegen Männer ausstreckt, die sein Lager umringen, auf ihn zu eilen, Antheil an ihm nehmen, etwas ver- heißen. Warum sind sie so thätig? Warum wei- chen ihre Körper auf diese bestimmte Art von der Lage eines Körpers in Ruhe ab? Dies sind die ersten Fragen, die die Neugierde thut. Sie entdeckt das Motiv: den Sterbenden, der seine Freunde um Beistand für seine Familie anruft; nun geht sie
wieder
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Pallaſt Barberini.
Man ſieht ein Gemaͤhlde als einen erlaͤuternden Kupferſtich an, der einem Buche beigefuͤgt worden; und fuͤr jeden Beſchauer der nicht die Stelle des Ge- ſchichtſchreibers oder Dichters gegenwaͤrtig hat, wor- aus das Suͤjet des Bildes genommen iſt, bleibt es alsdann ein quaͤlendes Fragment, das weder Herz noch Geiſt befriedigt.
Ein ſolcher Misbrauch iſt dem Gange zuwider, den unſere Erfahrungen uͤber das Intereſſe eines Bil- des zu nehmen pflegen; dem Anſpruch, den auch un- gelehrte, aber von Herz und Auge gebildete, Ge- nießer der ſchoͤnen Kuͤnſte auf aͤſthetiſche Wuͤrkung von einem Gemaͤhlde zu machen berechtiget ſind; und dem Begriff von Vollkommenheit eines Werks, die von Selbſtſtaͤndigkeit unzertrennlich iſt. Endlich zieht dieſer Misbrauch auch den Verluſt einer großen und der Mahlerei eigenthuͤmlichen Schoͤnheit nach ſich.
Der Liebhaber der in eine Gallerie tritt, ſagt ſich nicht: ich habe den Tacitus geleſen, ich bin doch neugierig, wie Pouſſin den ſterbenden Germanicus wird vorgeſtellet haben! Nein, er ſieht einen Kran- ken, der mit einer Hand auf ſein weinendes Weib, auf ſeine jammernden Kinder zeigt, und die andere gegen Maͤnner ausſtreckt, die ſein Lager umringen, auf ihn zu eilen, Antheil an ihm nehmen, etwas ver- heißen. Warum ſind ſie ſo thaͤtig? Warum wei- chen ihre Koͤrper auf dieſe beſtimmte Art von der Lage eines Koͤrpers in Ruhe ab? Dies ſind die erſten Fragen, die die Neugierde thut. Sie entdeckt das Motiv: den Sterbenden, der ſeine Freunde um Beiſtand fuͤr ſeine Familie anruft; nun geht ſie
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Pallaſt Barberini.
Man ſieht ein Gemaͤhlde als einen erlaͤuternden
Kupferſtich an, der einem Buche beigefuͤgt worden;
und fuͤr jeden Beſchauer der nicht die Stelle des Ge-
ſchichtſchreibers oder Dichters gegenwaͤrtig hat, wor-
aus das Suͤjet des Bildes genommen iſt, bleibt es
alsdann ein quaͤlendes Fragment, das weder Herz
noch Geiſt befriedigt.
Ein ſolcher Misbrauch iſt dem Gange zuwider,
den unſere Erfahrungen uͤber das Intereſſe eines Bil-
des zu nehmen pflegen; dem Anſpruch, den auch un-
gelehrte, aber von Herz und Auge gebildete, Ge-
nießer der ſchoͤnen Kuͤnſte auf aͤſthetiſche Wuͤrkung
von einem Gemaͤhlde zu machen berechtiget ſind; und
dem Begriff von Vollkommenheit eines Werks, die
von Selbſtſtaͤndigkeit unzertrennlich iſt. Endlich zieht
dieſer Misbrauch auch den Verluſt einer großen und
der Mahlerei eigenthuͤmlichen Schoͤnheit nach ſich.
Der Liebhaber der in eine Gallerie tritt, ſagt
ſich nicht: ich habe den Tacitus geleſen, ich bin doch
neugierig, wie Pouſſin den ſterbenden Germanicus
wird vorgeſtellet haben! Nein, er ſieht einen Kran-
ken, der mit einer Hand auf ſein weinendes Weib,
auf ſeine jammernden Kinder zeigt, und die andere
gegen Maͤnner ausſtreckt, die ſein Lager umringen,
auf ihn zu eilen, Antheil an ihm nehmen, etwas ver-
heißen. Warum ſind ſie ſo thaͤtig? Warum wei-
chen ihre Koͤrper auf dieſe beſtimmte Art von der Lage
eines Koͤrpers in Ruhe ab? Dies ſind die erſten
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/309>, abgerufen am 16.02.2025.
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