selten bietet sich ihm ihr Anblick dar, und wie noch sel- tener in der Vollkommenheit, die ihn zur Nachbil- dung anfeuern könnte!
Bei den Griechen sahe der Künstler die nackten Formen der edelsten Jugend beider Geschlechter in dem Grade von Vollkommenheit, wozu sie besorgte Erziehung, die Folge des Wohlstandes, nur immer zu bringen im Stande war. Er sahe sie täglich, bei ihren Festen, bei ihren Spielen, überall, indem Clima und falsche Begriffe von Anstand gänzliche Verhüllung des Körpers nicht nothwendig machten. Die schönsten der griechischen Mädchen und Jünglin- ge hielten es sich zur Ehre, als eine Venus, als ein Apollo der Gegenstand öffentlicher Verehrung zu werden.
Hingegen bei uns wähnt sich die Buhlerin, die ihre Reize zu jedem andern Gebrauche feil bietet, durch den Antrag entehrt, dem Künstler zum Mo- delle zu dienen. Rauheres Clima, andere Begriffe von Anstand, und phantastische Mode haben eine gänzliche Verhüllung nothwendig gemacht; und sel- ten glückt seitdem dem Bildhauer der Anblick eines nackten Körpers. Auge und Hand entwöhnen sich der Bekanntschaft mit Gegenständen, deren Nach- bildung nothwendig Sicherheit des Blicks, und Ue- bung der Hand erfordert. Es ist eine bekannte Er- fahrung, daß der neuere Künstler die Extremitäten des Körpers, die er oft entblößt sieht und nachahmt, wenn gleich nicht mit gleicher Schönheit, dennoch mit gleicher Wahrheit als der alte bildet; nur die übri- gen Theile des Körpers erfüllen selten die Forderungen, zu denen uns die Werke der Alten berechtigt haben.
Der
Dritter Theil. M
in der Bildhauerei.
ſelten bietet ſich ihm ihr Anblick dar, und wie noch ſel- tener in der Vollkommenheit, die ihn zur Nachbil- dung anfeuern koͤnnte!
Bei den Griechen ſahe der Kuͤnſtler die nackten Formen der edelſten Jugend beider Geſchlechter in dem Grade von Vollkommenheit, wozu ſie beſorgte Erziehung, die Folge des Wohlſtandes, nur immer zu bringen im Stande war. Er ſahe ſie taͤglich, bei ihren Feſten, bei ihren Spielen, uͤberall, indem Clima und falſche Begriffe von Anſtand gaͤnzliche Verhuͤllung des Koͤrpers nicht nothwendig machten. Die ſchoͤnſten der griechiſchen Maͤdchen und Juͤnglin- ge hielten es ſich zur Ehre, als eine Venus, als ein Apollo der Gegenſtand oͤffentlicher Verehrung zu werden.
Hingegen bei uns waͤhnt ſich die Buhlerin, die ihre Reize zu jedem andern Gebrauche feil bietet, durch den Antrag entehrt, dem Kuͤnſtler zum Mo- delle zu dienen. Rauheres Clima, andere Begriffe von Anſtand, und phantaſtiſche Mode haben eine gaͤnzliche Verhuͤllung nothwendig gemacht; und ſel- ten gluͤckt ſeitdem dem Bildhauer der Anblick eines nackten Koͤrpers. Auge und Hand entwoͤhnen ſich der Bekanntſchaft mit Gegenſtaͤnden, deren Nach- bildung nothwendig Sicherheit des Blicks, und Ue- bung der Hand erfordert. Es iſt eine bekannte Er- fahrung, daß der neuere Kuͤnſtler die Extremitaͤten des Koͤrpers, die er oft entbloͤßt ſieht und nachahmt, wenn gleich nicht mit gleicher Schoͤnheit, dennoch mit gleicher Wahrheit als der alte bildet; nur die uͤbri- gen Theile des Koͤrpers erfuͤllen ſelten die Forderungen, zu denen uns die Werke der Alten berechtigt haben.
Der
Dritter Theil. M
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in der Bildhauerei.
ſelten bietet ſich ihm ihr Anblick dar, und wie noch ſel-
tener in der Vollkommenheit, die ihn zur Nachbil-
dung anfeuern koͤnnte!
Bei den Griechen ſahe der Kuͤnſtler die nackten
Formen der edelſten Jugend beider Geſchlechter in
dem Grade von Vollkommenheit, wozu ſie beſorgte
Erziehung, die Folge des Wohlſtandes, nur immer
zu bringen im Stande war. Er ſahe ſie taͤglich,
bei ihren Feſten, bei ihren Spielen, uͤberall, indem
Clima und falſche Begriffe von Anſtand gaͤnzliche
Verhuͤllung des Koͤrpers nicht nothwendig machten.
Die ſchoͤnſten der griechiſchen Maͤdchen und Juͤnglin-
ge hielten es ſich zur Ehre, als eine Venus, als ein
Apollo der Gegenſtand oͤffentlicher Verehrung zu
werden.
Hingegen bei uns waͤhnt ſich die Buhlerin, die
ihre Reize zu jedem andern Gebrauche feil bietet,
durch den Antrag entehrt, dem Kuͤnſtler zum Mo-
delle zu dienen. Rauheres Clima, andere Begriffe
von Anſtand, und phantaſtiſche Mode haben eine
gaͤnzliche Verhuͤllung nothwendig gemacht; und ſel-
ten gluͤckt ſeitdem dem Bildhauer der Anblick eines
nackten Koͤrpers. Auge und Hand entwoͤhnen ſich
der Bekanntſchaft mit Gegenſtaͤnden, deren Nach-
bildung nothwendig Sicherheit des Blicks, und Ue-
bung der Hand erfordert. Es iſt eine bekannte Er-
fahrung, daß der neuere Kuͤnſtler die Extremitaͤten
des Koͤrpers, die er oft entbloͤßt ſieht und nachahmt,
wenn gleich nicht mit gleicher Schoͤnheit, dennoch mit
gleicher Wahrheit als der alte bildet; nur die uͤbri-
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Dritter Theil. M
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/201>, abgerufen am 23.11.2024.
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