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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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Ueber die Kennz. des Kirchenstils
Detail angenehm unterhalten wird. Der Jupiter
Verospi thut bei Tage wenig Würkung, und bei der
hoch gehaltenen Fackel am Abend sehr viel: Warum?
Weil das Auge gleich die großen Massen von Schat-
ten von den hellen Partien absondert, von diesen
hellen, welche die schönsten sind, zuerst angezogen
wird, und nun, ohne Nachtheil für das schon ge-
ordnete Ganze, gern bei dem Einzelnen verweilet.

Wer wird es leugnen wollen, daß die abwech-
selnde Lage der Glieder im Laocoon, die sich zu einer
leicht zu umfassenden Form vereinigen, dem Auge
angenehmer sey, als die gar zu einförmige Stellung
der Pallas Giustiniani?6)

Aber
6) Nähere Be-
stimmung
des Herder-
schen Grund-
satzes: die
Sculptur
arbeitet fürs
tastende Ge-
fühl.
Darf ich nicht glauben, daß diese Erfahrungen
schon allein den vielleicht nur zu weit getriebenen
Grundsatz widerlegen, daß die Sculptur fürs ta-
stende Gefühl arbeite? Herr Herder hat diesen in
seiner Plastik (Riga 1778.) festzusetzen gesucht.
Aber so viel Verehrung ich auch für diesen scharf-
sinnigen Gelehrten habe, so glaube ich doch, daß
es ihm zu sehr an praktischen Vorerkenntnissen in
der Kunst fehle, als daß seine Sätze und die dar-
aus gezogenen Folgerungen nicht das Gepräge
bloßer Speculationen an sich tragen sollten. Mich
dünkt unsere Sinne werden zu früh gewöhnt, sich
wechselseitig zu Hülfe zu kommen, als daß wir in
der Epoche unsers Lebens, wo wir die Künste zu
genießen anfangen, dem Auge befehlen könnten,
der Hand nicht weiter ins Amt zu greifen. Auch
sey es mir erlaubt zu bemerken, daß die tastende
Hand des Blinden zwar über die Wahrheit der
Körper von geringerem Umfange urtheilen, von
der

Ueber die Kennz. des Kirchenſtils
Detail angenehm unterhalten wird. Der Jupiter
Veroſpi thut bei Tage wenig Wuͤrkung, und bei der
hoch gehaltenen Fackel am Abend ſehr viel: Warum?
Weil das Auge gleich die großen Maſſen von Schat-
ten von den hellen Partien abſondert, von dieſen
hellen, welche die ſchoͤnſten ſind, zuerſt angezogen
wird, und nun, ohne Nachtheil fuͤr das ſchon ge-
ordnete Ganze, gern bei dem Einzelnen verweilet.

Wer wird es leugnen wollen, daß die abwech-
ſelnde Lage der Glieder im Laocoon, die ſich zu einer
leicht zu umfaſſenden Form vereinigen, dem Auge
angenehmer ſey, als die gar zu einfoͤrmige Stellung
der Pallas Giuſtiniani?6)

Aber
6) Naͤhere Be-
ſtimmung
des Herder-
ſchen Grund-
ſatzes: die
Sculptur
arbeitet fuͤrs
taſtende Ge-
fuͤhl.
Darf ich nicht glauben, daß dieſe Erfahrungen
ſchon allein den vielleicht nur zu weit getriebenen
Grundſatz widerlegen, daß die Sculptur fuͤrs ta-
ſtende Gefuͤhl arbeite? Herr Herder hat dieſen in
ſeiner Plaſtik (Riga 1778.) feſtzuſetzen geſucht.
Aber ſo viel Verehrung ich auch fuͤr dieſen ſcharf-
ſinnigen Gelehrten habe, ſo glaube ich doch, daß
es ihm zu ſehr an praktiſchen Vorerkenntniſſen in
der Kunſt fehle, als daß ſeine Saͤtze und die dar-
aus gezogenen Folgerungen nicht das Gepraͤge
bloßer Speculationen an ſich tragen ſollten. Mich
duͤnkt unſere Sinne werden zu fruͤh gewoͤhnt, ſich
wechſelſeitig zu Huͤlfe zu kommen, als daß wir in
der Epoche unſers Lebens, wo wir die Kuͤnſte zu
genießen anfangen, dem Auge befehlen koͤnnten,
der Hand nicht weiter ins Amt zu greifen. Auch
ſey es mir erlaubt zu bemerken, daß die taſtende
Hand des Blinden zwar uͤber die Wahrheit der
Koͤrper von geringerem Umfange urtheilen, von
der
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[198/0222] Ueber die Kennz. des Kirchenſtils Detail angenehm unterhalten wird. Der Jupiter Veroſpi thut bei Tage wenig Wuͤrkung, und bei der hoch gehaltenen Fackel am Abend ſehr viel: Warum? Weil das Auge gleich die großen Maſſen von Schat- ten von den hellen Partien abſondert, von dieſen hellen, welche die ſchoͤnſten ſind, zuerſt angezogen wird, und nun, ohne Nachtheil fuͤr das ſchon ge- ordnete Ganze, gern bei dem Einzelnen verweilet. Wer wird es leugnen wollen, daß die abwech- ſelnde Lage der Glieder im Laocoon, die ſich zu einer leicht zu umfaſſenden Form vereinigen, dem Auge angenehmer ſey, als die gar zu einfoͤrmige Stellung der Pallas Giuſtiniani? 6) Aber 6) Darf ich nicht glauben, daß dieſe Erfahrungen ſchon allein den vielleicht nur zu weit getriebenen Grundſatz widerlegen, daß die Sculptur fuͤrs ta- ſtende Gefuͤhl arbeite? Herr Herder hat dieſen in ſeiner Plaſtik (Riga 1778.) feſtzuſetzen geſucht. Aber ſo viel Verehrung ich auch fuͤr dieſen ſcharf- ſinnigen Gelehrten habe, ſo glaube ich doch, daß es ihm zu ſehr an praktiſchen Vorerkenntniſſen in der Kunſt fehle, als daß ſeine Saͤtze und die dar- aus gezogenen Folgerungen nicht das Gepraͤge bloßer Speculationen an ſich tragen ſollten. Mich duͤnkt unſere Sinne werden zu fruͤh gewoͤhnt, ſich wechſelſeitig zu Huͤlfe zu kommen, als daß wir in der Epoche unſers Lebens, wo wir die Kuͤnſte zu genießen anfangen, dem Auge befehlen koͤnnten, der Hand nicht weiter ins Amt zu greifen. Auch ſey es mir erlaubt zu bemerken, daß die taſtende Hand des Blinden zwar uͤber die Wahrheit der Koͤrper von geringerem Umfange urtheilen, von der

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/222>, abgerufen am 23.11.2024.