Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.
Anmerkungen dem Ausdruck eines einer Gattung von Menschen all-gemein individuellen Charakters. Er dachte sich sei- ne particulair individuellen Bildungen in zu starken Bewegungen, deren Absicht gemeiniglich räthselhaft bleibt. Er wählte die Natur nicht aus der edelsten Classe der Menschen, und bildete seine Männer fin- ster mürrisch, seine Weiber aber gezogen unbedeu- tend. Bei den ersten scheint er die Flußgötter der Alten, bei den letzten ein schlankes Florentinisches Bauermädchen zum Vorbilde genommen zu haben. In den Köpfen herrscht große Einförmigkeit. Sei- ne Körper sind gemeiniglich zu gestreckt, zu riesen- mäßig, und um seine Kenntniß im Muskeln- und Knochenbau zu zeigen, vergaß er oft, daß sie von Fleisch und Haut bedeckt werden. 95) Giovanni Bologna aus Flandern, Bandi- Man 95) Viele Kenner behaupten, daß M. Angelo mit alle
seinem Prunk von Anatomie, sie dennoch weder gut verstanden, noch gut angewandt habe; daß seine Gelenke zu steif, die Muskeln zu ähnlich an Form und Dicke sind; daß keine Muskel je in Ruhe bleibt; daß die Sehnen sich alle gleich sind, die Umrisse viel zu stark ausschweifen, und daher nicht sanft wieder einlenken. Ja, sie sagen sogar: M. An- gelo sey so manierirt gewesen, daß man mit einer Figur, alle übrigen gesehen habe. Ganz möchte ich dieses harte Urtheil nicht unterschreiben, aber zum Theil ist es nicht ungegründet. Anmerkungen dem Ausdruck eines einer Gattung von Menſchen all-gemein individuellen Charakters. Er dachte ſich ſei- ne particulair individuellen Bildungen in zu ſtarken Bewegungen, deren Abſicht gemeiniglich raͤthſelhaft bleibt. Er waͤhlte die Natur nicht aus der edelſten Claſſe der Menſchen, und bildete ſeine Maͤnner fin- ſter muͤrriſch, ſeine Weiber aber gezogen unbedeu- tend. Bei den erſten ſcheint er die Flußgoͤtter der Alten, bei den letzten ein ſchlankes Florentiniſches Bauermaͤdchen zum Vorbilde genommen zu haben. In den Koͤpfen herrſcht große Einfoͤrmigkeit. Sei- ne Koͤrper ſind gemeiniglich zu geſtreckt, zu rieſen- maͤßig, und um ſeine Kenntniß im Muskeln- und Knochenbau zu zeigen, vergaß er oft, daß ſie von Fleiſch und Haut bedeckt werden. 95) Giovanni Bologna aus Flandern, Bandi- Man 95) Viele Kenner behaupten, daß M. Angelo mit alle
ſeinem Prunk von Anatomie, ſie dennoch weder gut verſtanden, noch gut angewandt habe; daß ſeine Gelenke zu ſteif, die Muskeln zu aͤhnlich an Form und Dicke ſind; daß keine Muskel je in Ruhe bleibt; daß die Sehnen ſich alle gleich ſind, die Umriſſe viel zu ſtark ausſchweifen, und daher nicht ſanft wieder einlenken. Ja, ſie ſagen ſogar: M. An- gelo ſey ſo manierirt geweſen, daß man mit einer Figur, alle uͤbrigen geſehen habe. Ganz moͤchte ich dieſes harte Urtheil nicht unterſchreiben, aber zum Theil iſt es nicht ungegruͤndet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0358" n="334"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Anmerkungen</hi></fw><lb/> dem Ausdruck eines einer <hi rendition="#fr">Gattung</hi> von Menſchen all-<lb/> gemein individuellen Charakters. Er dachte ſich ſei-<lb/> ne particulair individuellen Bildungen in zu ſtarken<lb/> Bewegungen, deren Abſicht gemeiniglich raͤthſelhaft<lb/> bleibt. Er waͤhlte die Natur nicht aus der edelſten<lb/> Claſſe der Menſchen, und bildete ſeine Maͤnner fin-<lb/> ſter muͤrriſch, ſeine Weiber aber gezogen unbedeu-<lb/> tend. Bei den erſten ſcheint er die Flußgoͤtter der<lb/> Alten, bei den letzten ein ſchlankes Florentiniſches<lb/> Bauermaͤdchen zum Vorbilde genommen zu haben.<lb/> In den Koͤpfen herrſcht große Einfoͤrmigkeit. Sei-<lb/> ne Koͤrper ſind gemeiniglich zu geſtreckt, zu rieſen-<lb/> maͤßig, und um ſeine Kenntniß im Muskeln- und<lb/> Knochenbau zu zeigen, vergaß er oft, daß ſie von<lb/> Fleiſch und Haut bedeckt werden. <note place="foot" n="95)">Viele Kenner behaupten, daß M. Angelo mit alle<lb/> ſeinem Prunk von Anatomie, ſie dennoch weder<lb/> gut verſtanden, noch gut angewandt habe; daß ſeine<lb/> Gelenke zu ſteif, die Muskeln zu aͤhnlich an Form<lb/> und Dicke ſind; daß keine Muskel je in Ruhe bleibt;<lb/> daß die Sehnen ſich alle gleich ſind, die Umriſſe<lb/> viel zu ſtark ausſchweifen, und daher nicht ſanft<lb/> wieder einlenken. Ja, ſie ſagen ſogar: M. An-<lb/> gelo ſey ſo manierirt geweſen, daß man mit einer<lb/> Figur, alle uͤbrigen geſehen habe. Ganz moͤchte<lb/> ich dieſes harte Urtheil nicht unterſchreiben, aber<lb/> zum Theil iſt es nicht ungegruͤndet.</note></p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Giovanni Bologna</hi> aus Flandern, <hi rendition="#fr">Bandi-<lb/> nelli</hi> und <hi rendition="#fr">Guglielmino della Porta</hi> dachten in<lb/> M. Angelo’s Geiſte. Aber als Nachahmer, die<lb/> ſie waren, uͤbertrieben ſie ſeine Fehler, ohne ſeine V<supplied>or</supplied>-<lb/> zuͤge zu erreichen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Man</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [334/0358]
Anmerkungen
dem Ausdruck eines einer Gattung von Menſchen all-
gemein individuellen Charakters. Er dachte ſich ſei-
ne particulair individuellen Bildungen in zu ſtarken
Bewegungen, deren Abſicht gemeiniglich raͤthſelhaft
bleibt. Er waͤhlte die Natur nicht aus der edelſten
Claſſe der Menſchen, und bildete ſeine Maͤnner fin-
ſter muͤrriſch, ſeine Weiber aber gezogen unbedeu-
tend. Bei den erſten ſcheint er die Flußgoͤtter der
Alten, bei den letzten ein ſchlankes Florentiniſches
Bauermaͤdchen zum Vorbilde genommen zu haben.
In den Koͤpfen herrſcht große Einfoͤrmigkeit. Sei-
ne Koͤrper ſind gemeiniglich zu geſtreckt, zu rieſen-
maͤßig, und um ſeine Kenntniß im Muskeln- und
Knochenbau zu zeigen, vergaß er oft, daß ſie von
Fleiſch und Haut bedeckt werden. 95)
Giovanni Bologna aus Flandern, Bandi-
nelli und Guglielmino della Porta dachten in
M. Angelo’s Geiſte. Aber als Nachahmer, die
ſie waren, uͤbertrieben ſie ſeine Fehler, ohne ſeine Vor-
zuͤge zu erreichen.
Man
95) Viele Kenner behaupten, daß M. Angelo mit alle
ſeinem Prunk von Anatomie, ſie dennoch weder
gut verſtanden, noch gut angewandt habe; daß ſeine
Gelenke zu ſteif, die Muskeln zu aͤhnlich an Form
und Dicke ſind; daß keine Muskel je in Ruhe bleibt;
daß die Sehnen ſich alle gleich ſind, die Umriſſe
viel zu ſtark ausſchweifen, und daher nicht ſanft
wieder einlenken. Ja, ſie ſagen ſogar: M. An-
gelo ſey ſo manierirt geweſen, daß man mit einer
Figur, alle uͤbrigen geſehen habe. Ganz moͤchte
ich dieſes harte Urtheil nicht unterſchreiben, aber
zum Theil iſt es nicht ungegruͤndet.
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