Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite
Neuntes Kapitel.

Der Kuß.

O Kuß, du wirst geschändet, wenn man in dir eine armselige Nachbildung des unnennbaren Genusses sucht! Du hast deinen dir eigenthümlichen Reitz; du bist eines der auffallendsten Symbole der Vereinigung der Wesen!

Doch! was kann die arme Rede sagen, deine Wollust und Wonne auszudrücken, da die sinnlichste aller Darstellungen, jene Gruppe des Alterthums, welche die Umarmung Psyche's und Amors bildet, nur so mangelhaft an deine Freuden erinnert! Seht, wie die Liebende den Geliebten umschlingt, gleich dem Epheu, der den freundlichen Stamm umwindet, um sich nie wieder von ihm zu trennen! Seht, wie sie sich an ihm hinauf hebt, damit Herz auf Herz, Mund auf Mund passe! Seht, wie seine Rechte, verstrickt in ihre Seidenlocken, das Hinterhaupt an sich preßt, während die schmeichelnde Linke ihren zarten Kinn an den seinigen andrückt! Das, oder ungefähr das mag die Kunst des Bildners liefern! Aber ach! welche Kunst mag den Ausdruck der innern Regungen darstellen, die das ganze Wesen der Liebenden durchströmen! Nicht bloß den feinsten Geist der Animalität, mit dem ihre Körper hoch beladen sind, suchen sie einander mitzutheilen. Mehr; ihre Arme pressen aus den Körpern selbst die Seelen hervor, die getheilt zwischen Verlangen und banger Erwartung des Momentes harren, wo sie in das geliebte Wesen übergehen werden.

Schwellend und niedergedrückt von ermattender Begierde und Aengstlichkeit öffnen sich die Augenlieder halb und mühsam. Der schüchterne, wonnetrunkene

Neuntes Kapitel.

Der Kuß.

O Kuß, du wirst geschändet, wenn man in dir eine armselige Nachbildung des unnennbaren Genusses sucht! Du hast deinen dir eigenthümlichen Reitz; du bist eines der auffallendsten Symbole der Vereinigung der Wesen!

Doch! was kann die arme Rede sagen, deine Wollust und Wonne auszudrücken, da die sinnlichste aller Darstellungen, jene Gruppe des Alterthums, welche die Umarmung Psyche’s und Amors bildet, nur so mangelhaft an deine Freuden erinnert! Seht, wie die Liebende den Geliebten umschlingt, gleich dem Epheu, der den freundlichen Stamm umwindet, um sich nie wieder von ihm zu trennen! Seht, wie sie sich an ihm hinauf hebt, damit Herz auf Herz, Mund auf Mund passe! Seht, wie seine Rechte, verstrickt in ihre Seidenlocken, das Hinterhaupt an sich preßt, während die schmeichelnde Linke ihren zarten Kinn an den seinigen andrückt! Das, oder ungefähr das mag die Kunst des Bildners liefern! Aber ach! welche Kunst mag den Ausdruck der innern Regungen darstellen, die das ganze Wesen der Liebenden durchströmen! Nicht bloß den feinsten Geist der Animalität, mit dem ihre Körper hoch beladen sind, suchen sie einander mitzutheilen. Mehr; ihre Arme pressen aus den Körpern selbst die Seelen hervor, die getheilt zwischen Verlangen und banger Erwartung des Momentes harren, wo sie in das geliebte Wesen übergehen werden.

Schwellend und niedergedrückt von ermattender Begierde und Aengstlichkeit öffnen sich die Augenlieder halb und mühsam. Der schüchterne, wonnetrunkene

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0287" n="287"/>
        <div n="2">
          <head>Neuntes Kapitel.<lb/></head>
          <argument>
            <p>Der Kuß.<lb/></p>
          </argument>
          <p>O Kuß, du wirst geschändet, wenn man in dir eine armselige Nachbildung des unnennbaren Genusses sucht! Du hast deinen dir eigenthümlichen Reitz; du bist eines der auffallendsten Symbole der Vereinigung der Wesen!</p>
          <p>Doch! was kann die arme Rede sagen, deine Wollust und Wonne auszudrücken, da die sinnlichste aller Darstellungen, jene Gruppe des Alterthums, welche die Umarmung Psyche&#x2019;s und Amors bildet, nur so mangelhaft an deine Freuden erinnert! Seht, wie die Liebende den Geliebten umschlingt, gleich dem Epheu, der den freundlichen Stamm umwindet, um sich nie wieder von ihm zu trennen! Seht, wie sie sich an ihm hinauf hebt, damit Herz auf Herz, Mund auf Mund passe! Seht, wie seine Rechte, verstrickt in ihre Seidenlocken, das Hinterhaupt an sich preßt, während die schmeichelnde Linke ihren zarten Kinn an den seinigen andrückt! <hi rendition="#g">Das</hi>, oder ungefähr <hi rendition="#g">das</hi> mag die Kunst des Bildners liefern! Aber ach! welche Kunst mag den Ausdruck der innern Regungen darstellen, die das ganze Wesen der Liebenden durchströmen! Nicht bloß den feinsten Geist der Animalität, mit dem ihre Körper hoch beladen sind, suchen sie einander mitzutheilen. Mehr; ihre Arme pressen aus den Körpern selbst die Seelen hervor, die getheilt zwischen Verlangen und banger Erwartung des Momentes harren, wo sie in das geliebte Wesen übergehen werden.</p>
          <p>Schwellend und niedergedrückt von ermattender Begierde und Aengstlichkeit öffnen sich die Augenlieder halb und mühsam. Der schüchterne, wonnetrunkene
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0287] Neuntes Kapitel. Der Kuß. O Kuß, du wirst geschändet, wenn man in dir eine armselige Nachbildung des unnennbaren Genusses sucht! Du hast deinen dir eigenthümlichen Reitz; du bist eines der auffallendsten Symbole der Vereinigung der Wesen! Doch! was kann die arme Rede sagen, deine Wollust und Wonne auszudrücken, da die sinnlichste aller Darstellungen, jene Gruppe des Alterthums, welche die Umarmung Psyche’s und Amors bildet, nur so mangelhaft an deine Freuden erinnert! Seht, wie die Liebende den Geliebten umschlingt, gleich dem Epheu, der den freundlichen Stamm umwindet, um sich nie wieder von ihm zu trennen! Seht, wie sie sich an ihm hinauf hebt, damit Herz auf Herz, Mund auf Mund passe! Seht, wie seine Rechte, verstrickt in ihre Seidenlocken, das Hinterhaupt an sich preßt, während die schmeichelnde Linke ihren zarten Kinn an den seinigen andrückt! Das, oder ungefähr das mag die Kunst des Bildners liefern! Aber ach! welche Kunst mag den Ausdruck der innern Regungen darstellen, die das ganze Wesen der Liebenden durchströmen! Nicht bloß den feinsten Geist der Animalität, mit dem ihre Körper hoch beladen sind, suchen sie einander mitzutheilen. Mehr; ihre Arme pressen aus den Körpern selbst die Seelen hervor, die getheilt zwischen Verlangen und banger Erwartung des Momentes harren, wo sie in das geliebte Wesen übergehen werden. Schwellend und niedergedrückt von ermattender Begierde und Aengstlichkeit öffnen sich die Augenlieder halb und mühsam. Der schüchterne, wonnetrunkene

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/287
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/287>, abgerufen am 22.11.2024.