Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

gab, und daß selbst die leichtere nicht völlig getadelt wurde. Der Ausdruck der Leidenschaft ist übrigens äußerst naiv und wahr, und die Situationen haben zum Theil eine ergreifende Individualität.

Merkwürdig bleibt es zu gleicher Zeit, wie ausgebildet die Begriffe von Humanität und Courteoisie in diesem Romane, in Vergleichung mit den ältern Romanen vom Hofe Karls des Großen erscheinen. Hier ist der Held immer bescheiden: hier streiten Tristan und Lancelot um den Vorzug, ihr Verdienst dem Verdienste des Andern nachsetzen zu können: hier entläßt der Wirth seinen Gast, den er als den Mörder seines Verwandten erkennt, weil er die Rechte der Gastfreundschaft ehrt: hier befreyet der Ritter seinen Feind, der ihm den Tod geschworen hat, und nimmt Abrede mit ihm, sich an einem andern Orte auf Leben und Tod zu schlagen: hier endlich beweint der Nebenbuhler den Tod des begünstigten Liebhabers, um des Verlustes willen, den die Ritterschaft an ihm leidet.

Auffallend ist neben diesen Zügen von Edelmuth der Mangel an sittlichem Gefühle in so manchen andern Dingen. Tristan macht sich kein Gewissen daraus, seinen Freund auf einem verliebten Abentheuer zu begleiten, und den Gatten, der ihn verfolgt, über den Haufen zu stoßen. Yseults Verrätherey an Brangien wird mit der größten Gleichgültigkeit erzählt, u. s. w. Ueberhaupt erhalten alle Vergehen, zu denen die Liebe Veranlassung giebt, den Schein leicht zu verzeihender Schwächen.

Ungeachtet eine gewisse ferne Bekanntschaft mit verschiedenen Ideen der Morgenländer nicht zu verkennen

gab, und daß selbst die leichtere nicht völlig getadelt wurde. Der Ausdruck der Leidenschaft ist übrigens äußerst naiv und wahr, und die Situationen haben zum Theil eine ergreifende Individualität.

Merkwürdig bleibt es zu gleicher Zeit, wie ausgebildet die Begriffe von Humanität und Courteoisie in diesem Romane, in Vergleichung mit den ältern Romanen vom Hofe Karls des Großen erscheinen. Hier ist der Held immer bescheiden: hier streiten Tristan und Lancelot um den Vorzug, ihr Verdienst dem Verdienste des Andern nachsetzen zu können: hier entläßt der Wirth seinen Gast, den er als den Mörder seines Verwandten erkennt, weil er die Rechte der Gastfreundschaft ehrt: hier befreyet der Ritter seinen Feind, der ihm den Tod geschworen hat, und nimmt Abrede mit ihm, sich an einem andern Orte auf Leben und Tod zu schlagen: hier endlich beweint der Nebenbuhler den Tod des begünstigten Liebhabers, um des Verlustes willen, den die Ritterschaft an ihm leidet.

Auffallend ist neben diesen Zügen von Edelmuth der Mangel an sittlichem Gefühle in so manchen andern Dingen. Tristan macht sich kein Gewissen daraus, seinen Freund auf einem verliebten Abentheuer zu begleiten, und den Gatten, der ihn verfolgt, über den Haufen zu stoßen. Yseults Verrätherey an Brangien wird mit der größten Gleichgültigkeit erzählt, u. s. w. Ueberhaupt erhalten alle Vergehen, zu denen die Liebe Veranlassung giebt, den Schein leicht zu verzeihender Schwächen.

Ungeachtet eine gewisse ferne Bekanntschaft mit verschiedenen Ideen der Morgenländer nicht zu verkennen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0140" n="140"/>
gab, und daß selbst die leichtere nicht völlig getadelt wurde. Der Ausdruck der Leidenschaft ist übrigens äußerst naiv und wahr, und die Situationen haben zum Theil eine ergreifende Individualität.</p>
          <p>Merkwürdig bleibt es zu gleicher Zeit, wie ausgebildet die Begriffe von Humanität und Courteoisie in diesem Romane, in Vergleichung mit den ältern Romanen vom Hofe Karls des Großen erscheinen. Hier ist der Held immer bescheiden: hier streiten Tristan und Lancelot um den Vorzug, ihr Verdienst dem Verdienste des Andern nachsetzen zu können: hier entläßt der Wirth seinen Gast, den er als den Mörder seines Verwandten erkennt, weil er die Rechte der Gastfreundschaft ehrt: hier befreyet der Ritter seinen Feind, der ihm den Tod geschworen hat, und nimmt Abrede mit ihm, sich an einem andern Orte auf Leben und Tod zu schlagen: hier endlich beweint der Nebenbuhler den Tod des begünstigten Liebhabers, um des Verlustes willen, den die Ritterschaft an ihm leidet.</p>
          <p>Auffallend ist neben diesen Zügen von Edelmuth der Mangel an sittlichem Gefühle in so manchen andern Dingen. Tristan macht sich kein Gewissen daraus, seinen Freund auf einem verliebten Abentheuer zu begleiten, und den Gatten, der ihn verfolgt, über den Haufen zu stoßen. Yseults Verrätherey an Brangien wird mit der größten Gleichgültigkeit erzählt, u. s. w. Ueberhaupt erhalten alle Vergehen, zu denen die Liebe Veranlassung giebt, den Schein leicht zu verzeihender Schwächen.</p>
          <p>Ungeachtet eine gewisse ferne Bekanntschaft mit verschiedenen Ideen der Morgenländer nicht zu verkennen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0140] gab, und daß selbst die leichtere nicht völlig getadelt wurde. Der Ausdruck der Leidenschaft ist übrigens äußerst naiv und wahr, und die Situationen haben zum Theil eine ergreifende Individualität. Merkwürdig bleibt es zu gleicher Zeit, wie ausgebildet die Begriffe von Humanität und Courteoisie in diesem Romane, in Vergleichung mit den ältern Romanen vom Hofe Karls des Großen erscheinen. Hier ist der Held immer bescheiden: hier streiten Tristan und Lancelot um den Vorzug, ihr Verdienst dem Verdienste des Andern nachsetzen zu können: hier entläßt der Wirth seinen Gast, den er als den Mörder seines Verwandten erkennt, weil er die Rechte der Gastfreundschaft ehrt: hier befreyet der Ritter seinen Feind, der ihm den Tod geschworen hat, und nimmt Abrede mit ihm, sich an einem andern Orte auf Leben und Tod zu schlagen: hier endlich beweint der Nebenbuhler den Tod des begünstigten Liebhabers, um des Verlustes willen, den die Ritterschaft an ihm leidet. Auffallend ist neben diesen Zügen von Edelmuth der Mangel an sittlichem Gefühle in so manchen andern Dingen. Tristan macht sich kein Gewissen daraus, seinen Freund auf einem verliebten Abentheuer zu begleiten, und den Gatten, der ihn verfolgt, über den Haufen zu stoßen. Yseults Verrätherey an Brangien wird mit der größten Gleichgültigkeit erzählt, u. s. w. Ueberhaupt erhalten alle Vergehen, zu denen die Liebe Veranlassung giebt, den Schein leicht zu verzeihender Schwächen. Ungeachtet eine gewisse ferne Bekanntschaft mit verschiedenen Ideen der Morgenländer nicht zu verkennen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0302_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0302_1798/140
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0302_1798/140>, abgerufen am 21.11.2024.