Doctrin nothwendig; sie würde sonst nicht wahrhaft be- griffen, innerlich angenommen werden: ohne ein immer wie- derholtes Bezweifeln und Ueberzeugtwerden, Bej[a]hen, Ver- neinen, Suchen und Finden würde kein Irrthum zu heben, kein tieferes Verständniß zu erreichen seyn. Und so kann auch die Kirche eine unabhängige politische Bewegung nicht ent- behren; sie bedarf es, an die wechselnden Bedürfnisse der Gei- ster, die Wandelbarkeit ihrer eigenen Formen erinnert zu werden, um sich vor der dumpfen Wiederholung unbegrif- fener Lehren und Dienste zu bewahren, welche die Seele tödten.
Man hat gesagt: der Staat sey schon die Kirche oder die Kirche hat sich berechtigt geglaubt, an die Stelle des Staates zu treten: die Wahrheit ist, daß das geistige Leben -- in seiner Tiefe und Energie allerdings sich selber gleich, ein und dasselbe -- doch in diesen beiden Prinzipien sich äußert, die sich in den mannichfaltigsten Abwandlungen be- rühren, einander zu durchdringen, auszuschließen suchen, und doch niemals zusammenfallen, niemals eines das andre zu überwältigen vermögen. Wenigstens ist es in unsern abendländischen Nationen nie dahin gekommen. Das Cha- lifat mag kirchliche und politische Gewalt in Einer Hand vereinigen; das Leben der abendländischen Christenheit be- ruht dagegen auf der unaufhörlichen Wechselwirkung zwi- schen Kirche und Staat; daraus entspringt die immer freiere, umfassendere, tiefere Bewegung des Geistes, die ihr, im Ganzen und Großen angeschaut, zugeschrieben werden muß; in dem wechselseitigen Verhältniß derselben ist die jedesma- lige Gestalt des Gemeinwesens gegründet.
Einleitung.
Doctrin nothwendig; ſie würde ſonſt nicht wahrhaft be- griffen, innerlich angenommen werden: ohne ein immer wie- derholtes Bezweifeln und Ueberzeugtwerden, Bej[a]hen, Ver- neinen, Suchen und Finden würde kein Irrthum zu heben, kein tieferes Verſtändniß zu erreichen ſeyn. Und ſo kann auch die Kirche eine unabhängige politiſche Bewegung nicht ent- behren; ſie bedarf es, an die wechſelnden Bedürfniſſe der Gei- ſter, die Wandelbarkeit ihrer eigenen Formen erinnert zu werden, um ſich vor der dumpfen Wiederholung unbegrif- fener Lehren und Dienſte zu bewahren, welche die Seele tödten.
Man hat geſagt: der Staat ſey ſchon die Kirche oder die Kirche hat ſich berechtigt geglaubt, an die Stelle des Staates zu treten: die Wahrheit iſt, daß das geiſtige Leben — in ſeiner Tiefe und Energie allerdings ſich ſelber gleich, ein und daſſelbe — doch in dieſen beiden Prinzipien ſich äußert, die ſich in den mannichfaltigſten Abwandlungen be- rühren, einander zu durchdringen, auszuſchließen ſuchen, und doch niemals zuſammenfallen, niemals eines das andre zu überwältigen vermögen. Wenigſtens iſt es in unſern abendländiſchen Nationen nie dahin gekommen. Das Cha- lifat mag kirchliche und politiſche Gewalt in Einer Hand vereinigen; das Leben der abendländiſchen Chriſtenheit be- ruht dagegen auf der unaufhörlichen Wechſelwirkung zwi- ſchen Kirche und Staat; daraus entſpringt die immer freiere, umfaſſendere, tiefere Bewegung des Geiſtes, die ihr, im Ganzen und Großen angeſchaut, zugeſchrieben werden muß; in dem wechſelſeitigen Verhältniß derſelben iſt die jedesma- lige Geſtalt des Gemeinweſens gegründet.
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Einleitung.
Doctrin nothwendig; ſie würde ſonſt nicht wahrhaft be-
griffen, innerlich angenommen werden: ohne ein immer wie-
derholtes Bezweifeln und Ueberzeugtwerden, Bejahen, Ver-
neinen, Suchen und Finden würde kein Irrthum zu heben,
kein tieferes Verſtändniß zu erreichen ſeyn. Und ſo kann auch
die Kirche eine unabhängige politiſche Bewegung nicht ent-
behren; ſie bedarf es, an die wechſelnden Bedürfniſſe der Gei-
ſter, die Wandelbarkeit ihrer eigenen Formen erinnert zu
werden, um ſich vor der dumpfen Wiederholung unbegrif-
fener Lehren und Dienſte zu bewahren, welche die Seele
tödten.
Man hat geſagt: der Staat ſey ſchon die Kirche oder
die Kirche hat ſich berechtigt geglaubt, an die Stelle des
Staates zu treten: die Wahrheit iſt, daß das geiſtige Leben
— in ſeiner Tiefe und Energie allerdings ſich ſelber gleich,
ein und daſſelbe — doch in dieſen beiden Prinzipien ſich
äußert, die ſich in den mannichfaltigſten Abwandlungen be-
rühren, einander zu durchdringen, auszuſchließen ſuchen,
und doch niemals zuſammenfallen, niemals eines das andre
zu überwältigen vermögen. Wenigſtens iſt es in unſern
abendländiſchen Nationen nie dahin gekommen. Das Cha-
lifat mag kirchliche und politiſche Gewalt in Einer Hand
vereinigen; das Leben der abendländiſchen Chriſtenheit be-
ruht dagegen auf der unaufhörlichen Wechſelwirkung zwi-
ſchen Kirche und Staat; daraus entſpringt die immer freiere,
umfaſſendere, tiefere Bewegung des Geiſtes, die ihr, im
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/23>, abgerufen am 24.11.2024.
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