Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite
Viertes Capitel.
Reichstag zu Worms im Jahr 1521.

Das war nun wirklich für die Entwickelung der Na-
tion die Hauptfrage, wie Carl V Aufforderungen dieser Art
ansehn, in welches Verhältniß er überhaupt zu den großen
nationalen Bewegungen treten würde.

Wir sahen: noch schwankte Alles. Es war keine
Form für die Regierung gefunden: kein Finanzsystem, keine
Kriegseinrichtung zu Stande gebracht worden: es gab kein
höchstes Gericht: der Landfriede ward nicht beobachtet.
Alle Stände im Reiche waren wider einander, Fürsten und
Adel, Ritter und Städte, Weltliche und Laien, die höhern
Classen überhaupt und die Bauern. Und dazu nun diese
alle Regionen des Geistes umfassende religiöse Bewegung,
in der Tiefe des nationalen Bewußtseyns entsprungen, jetzt
zu offener Empörung wider das Oberhaupt der Hierarchie
gediehen! Es lebte eine gewaltsame, geistreiche, erfinderi-
sche, ernste, tiefsinnige Generation. Sie hatte ein Gefühl
davon, daß in ihr eine große Weltveränderung beginne.

Worin liegt das natürliche Bedürfniß der Menschen,

ei-
Viertes Capitel.
Reichstag zu Worms im Jahr 1521.

Das war nun wirklich für die Entwickelung der Na-
tion die Hauptfrage, wie Carl V Aufforderungen dieſer Art
anſehn, in welches Verhältniß er überhaupt zu den großen
nationalen Bewegungen treten würde.

Wir ſahen: noch ſchwankte Alles. Es war keine
Form für die Regierung gefunden: kein Finanzſyſtem, keine
Kriegseinrichtung zu Stande gebracht worden: es gab kein
höchſtes Gericht: der Landfriede ward nicht beobachtet.
Alle Stände im Reiche waren wider einander, Fürſten und
Adel, Ritter und Städte, Weltliche und Laien, die höhern
Claſſen überhaupt und die Bauern. Und dazu nun dieſe
alle Regionen des Geiſtes umfaſſende religiöſe Bewegung,
in der Tiefe des nationalen Bewußtſeyns entſprungen, jetzt
zu offener Empörung wider das Oberhaupt der Hierarchie
gediehen! Es lebte eine gewaltſame, geiſtreiche, erfinderi-
ſche, ernſte, tiefſinnige Generation. Sie hatte ein Gefühl
davon, daß in ihr eine große Weltveränderung beginne.

Worin liegt das natürliche Bedürfniß der Menſchen,

ei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0466" n="[448]"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Viertes Capitel</hi>.<lb/>
Reichstag zu Worms im Jahr 1521.</head><lb/>
          <p>Das war nun wirklich für die Entwickelung der Na-<lb/>
tion die Hauptfrage, wie Carl <hi rendition="#aq">V</hi> Aufforderungen die&#x017F;er Art<lb/>
an&#x017F;ehn, in welches Verhältniß er überhaupt zu den großen<lb/>
nationalen Bewegungen treten würde.</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;ahen: noch &#x017F;chwankte Alles. Es war keine<lb/>
Form für die Regierung gefunden: kein Finanz&#x017F;y&#x017F;tem, keine<lb/>
Kriegseinrichtung zu Stande gebracht worden: es gab kein<lb/>
höch&#x017F;tes Gericht: der Landfriede ward nicht beobachtet.<lb/>
Alle Stände im Reiche waren wider einander, Für&#x017F;ten und<lb/>
Adel, Ritter und Städte, Weltliche und Laien, die höhern<lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;en überhaupt und die Bauern. Und dazu nun die&#x017F;e<lb/>
alle Regionen des Gei&#x017F;tes umfa&#x017F;&#x017F;ende religiö&#x017F;e Bewegung,<lb/>
in der Tiefe des nationalen Bewußt&#x017F;eyns ent&#x017F;prungen, jetzt<lb/>
zu offener Empörung wider das Oberhaupt der Hierarchie<lb/>
gediehen! Es lebte eine gewalt&#x017F;ame, gei&#x017F;treiche, erfinderi-<lb/>
&#x017F;che, ern&#x017F;te, tief&#x017F;innige Generation. Sie hatte ein Gefühl<lb/>
davon, daß in ihr eine große Weltveränderung beginne.</p><lb/>
          <p>Worin liegt das natürliche Bedürfniß der Men&#x017F;chen,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[448]/0466] Viertes Capitel. Reichstag zu Worms im Jahr 1521. Das war nun wirklich für die Entwickelung der Na- tion die Hauptfrage, wie Carl V Aufforderungen dieſer Art anſehn, in welches Verhältniß er überhaupt zu den großen nationalen Bewegungen treten würde. Wir ſahen: noch ſchwankte Alles. Es war keine Form für die Regierung gefunden: kein Finanzſyſtem, keine Kriegseinrichtung zu Stande gebracht worden: es gab kein höchſtes Gericht: der Landfriede ward nicht beobachtet. Alle Stände im Reiche waren wider einander, Fürſten und Adel, Ritter und Städte, Weltliche und Laien, die höhern Claſſen überhaupt und die Bauern. Und dazu nun dieſe alle Regionen des Geiſtes umfaſſende religiöſe Bewegung, in der Tiefe des nationalen Bewußtſeyns entſprungen, jetzt zu offener Empörung wider das Oberhaupt der Hierarchie gediehen! Es lebte eine gewaltſame, geiſtreiche, erfinderi- ſche, ernſte, tiefſinnige Generation. Sie hatte ein Gefühl davon, daß in ihr eine große Weltveränderung beginne. Worin liegt das natürliche Bedürfniß der Menſchen, ei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/466
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. [448]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/466>, abgerufen am 22.11.2024.