lebt und webt in den kirchlichen Ueberlieferungen, nicht ohne die heftigsten inneren Stürme von dem Zufälligen, dem unbegründeten Zusatz frei gemacht. Aber um so uner- schütterlicher hält er nun auch an dem Mysterium fest, in so fern es mit dem Wortsinn der Schrift übereinstimmt und dadurch bewährt wird. Er weiß es mit alle dem Tief- sinn aufzufassen, der ihm ursprünglich zu Grunde gelegen; er ist empfänglich für die großartigste Mystik, ja durch- drungen davon.
Es ist wahr, Luther fiel von der römischen Kirche ab, oder vielmehr er ward von ihr ausgestoßen, und hat ihr mehr geschadet als ein andrer Mensch. Allein er verläug- nete nie seinen Ursprung. Wenn wir die welthistorische Be- wegung der Meinung und Lehre ins Auge fassen, so ist eben Luther das Organ, durch welches sich das lateinische Kirchenwesen zu einer freieren minder hierarchischen, mit den ursprünglichen Tendenzen des Christenthums wieder au- ßer Widerspruch gesetzten Entwickelung umbildete.
Gestehen wir aber, daß seine Auffassung besonders in diesem Stück doch immer etwas Individuelles behielt, nicht einem Jeden einleuchten konnte, wie denn auch seine Stel- lung keineswegs von Allen getheilt wurde. Auch die tie- fern und bedeutendern Geister, die an der Thätigkeit des Jahrhunderts lebendigen Antheil nahmen, waren mit nich- ten alle so kirchlich gesinnt wie Luther. So wie Zwingli's Beweisführung Luther'n nicht überzeugen konnte, so ging die Auffassung Luthers an Zwingli vorüber, ohne auf ihn Eindruck zu machen.
Zwingli lebte, wie berührt, überhaupt nicht so tief in
Fuͤnftes Buch. Drittes Capitel.
lebt und webt in den kirchlichen Ueberlieferungen, nicht ohne die heftigſten inneren Stürme von dem Zufälligen, dem unbegründeten Zuſatz frei gemacht. Aber um ſo uner- ſchütterlicher hält er nun auch an dem Myſterium feſt, in ſo fern es mit dem Wortſinn der Schrift übereinſtimmt und dadurch bewährt wird. Er weiß es mit alle dem Tief- ſinn aufzufaſſen, der ihm urſprünglich zu Grunde gelegen; er iſt empfänglich für die großartigſte Myſtik, ja durch- drungen davon.
Es iſt wahr, Luther fiel von der römiſchen Kirche ab, oder vielmehr er ward von ihr ausgeſtoßen, und hat ihr mehr geſchadet als ein andrer Menſch. Allein er verläug- nete nie ſeinen Urſprung. Wenn wir die welthiſtoriſche Be- wegung der Meinung und Lehre ins Auge faſſen, ſo iſt eben Luther das Organ, durch welches ſich das lateiniſche Kirchenweſen zu einer freieren minder hierarchiſchen, mit den urſprünglichen Tendenzen des Chriſtenthums wieder au- ßer Widerſpruch geſetzten Entwickelung umbildete.
Geſtehen wir aber, daß ſeine Auffaſſung beſonders in dieſem Stück doch immer etwas Individuelles behielt, nicht einem Jeden einleuchten konnte, wie denn auch ſeine Stel- lung keineswegs von Allen getheilt wurde. Auch die tie- fern und bedeutendern Geiſter, die an der Thätigkeit des Jahrhunderts lebendigen Antheil nahmen, waren mit nich- ten alle ſo kirchlich geſinnt wie Luther. So wie Zwingli’s Beweisführung Luther’n nicht überzeugen konnte, ſo ging die Auffaſſung Luthers an Zwingli vorüber, ohne auf ihn Eindruck zu machen.
Zwingli lebte, wie berührt, überhaupt nicht ſo tief in
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Fuͤnftes Buch. Drittes Capitel.
lebt und webt in den kirchlichen Ueberlieferungen, nicht
ohne die heftigſten inneren Stürme von dem Zufälligen,
dem unbegründeten Zuſatz frei gemacht. Aber um ſo uner-
ſchütterlicher hält er nun auch an dem Myſterium feſt, in
ſo fern es mit dem Wortſinn der Schrift übereinſtimmt
und dadurch bewährt wird. Er weiß es mit alle dem Tief-
ſinn aufzufaſſen, der ihm urſprünglich zu Grunde gelegen;
er iſt empfänglich für die großartigſte Myſtik, ja durch-
drungen davon.
Es iſt wahr, Luther fiel von der römiſchen Kirche ab,
oder vielmehr er ward von ihr ausgeſtoßen, und hat ihr
mehr geſchadet als ein andrer Menſch. Allein er verläug-
nete nie ſeinen Urſprung. Wenn wir die welthiſtoriſche Be-
wegung der Meinung und Lehre ins Auge faſſen, ſo iſt
eben Luther das Organ, durch welches ſich das lateiniſche
Kirchenweſen zu einer freieren minder hierarchiſchen, mit
den urſprünglichen Tendenzen des Chriſtenthums wieder au-
ßer Widerſpruch geſetzten Entwickelung umbildete.
Geſtehen wir aber, daß ſeine Auffaſſung beſonders in
dieſem Stück doch immer etwas Individuelles behielt, nicht
einem Jeden einleuchten konnte, wie denn auch ſeine Stel-
lung keineswegs von Allen getheilt wurde. Auch die tie-
fern und bedeutendern Geiſter, die an der Thätigkeit des
Jahrhunderts lebendigen Antheil nahmen, waren mit nich-
ten alle ſo kirchlich geſinnt wie Luther. So wie Zwingli’s
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die Auffaſſung Luthers an Zwingli vorüber, ohne auf ihn
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Zwingli lebte, wie berührt, überhaupt nicht ſo tief in
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation03_1840/102>, abgerufen am 24.11.2024.
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