waltig, weil sie einem Bedürfniß tieferer Geister, das sich schon lebhaft regte, entgegenkam, und zugleich der Tendenz der Neuerung, die aus den unleugbaren Mißbräuchen ent- sprang, religiöse Begründung gab.
Und dabei stützte sie sich auf so helle Sprüche der Schrift!
Der Nachtheil nun, in den diese Doctrin bei den ge- lehrten Verhandlungen gerieth, bestand zunächst darin, daß die tiefern religiösen Antriebe, die ein persönliches In-sich-gehn voraussetzen, sich nur schwer als Argumente behandeln las- sen, gültig auch für Die, in welchen ein Bewußtseyn der Unzulänglichkeit der dargebotenen Heilslehre überhaupt nicht erwacht ist. Noch wirksamer aber war Folgendes. Wenn von der Rechtfertigung allein durch Gnade, ohne gute Werke, die Rede war, so dachte man jetzt nicht mehr an jene kirchli- chen Handlungen, deren Verdienstlichkeit vor Gott von Luther und seinen Anhängern ursprünglich bestritten worden, son- dern an sittlich-gutes Leben, Wohlverhalten überhaupt, des- sen Nothwendigkeit kein Mensch weniger in Zweifel gezogen hatte als Luther, nur daß er in dem Glauben das Ursprüng- liche sah, die Quelle, aus der alles Andre fließt. Indem aber der Streit auf dieses Gebiet übergieng, verlor die pro- testantische Ansicht an ihrer unmittelbaren Wirksamkeit, an ihrer, ich möchte sagen, oppositionellen Kraft: sie schien nur noch ein transcendentales Interesse zu haben, welches bei weitem minder einleuchtete. Vielmehr bekam auf diesem Boden die Ansicht der Scholastiker, welche die Rechtferti- gung allmählig geschehen läßt, durch die Mittel welche die Kirche darbietet, einen practischen, gewissermaßen pädagogi-
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Das trident. Conc. Juſtificationslehre.
waltig, weil ſie einem Bedürfniß tieferer Geiſter, das ſich ſchon lebhaft regte, entgegenkam, und zugleich der Tendenz der Neuerung, die aus den unleugbaren Mißbräuchen ent- ſprang, religiöſe Begründung gab.
Und dabei ſtützte ſie ſich auf ſo helle Sprüche der Schrift!
Der Nachtheil nun, in den dieſe Doctrin bei den ge- lehrten Verhandlungen gerieth, beſtand zunächſt darin, daß die tiefern religiöſen Antriebe, die ein perſönliches In-ſich-gehn vorausſetzen, ſich nur ſchwer als Argumente behandeln laſ- ſen, gültig auch für Die, in welchen ein Bewußtſeyn der Unzulänglichkeit der dargebotenen Heilslehre überhaupt nicht erwacht iſt. Noch wirkſamer aber war Folgendes. Wenn von der Rechtfertigung allein durch Gnade, ohne gute Werke, die Rede war, ſo dachte man jetzt nicht mehr an jene kirchli- chen Handlungen, deren Verdienſtlichkeit vor Gott von Luther und ſeinen Anhängern urſprünglich beſtritten worden, ſon- dern an ſittlich-gutes Leben, Wohlverhalten überhaupt, deſ- ſen Nothwendigkeit kein Menſch weniger in Zweifel gezogen hatte als Luther, nur daß er in dem Glauben das Urſprüng- liche ſah, die Quelle, aus der alles Andre fließt. Indem aber der Streit auf dieſes Gebiet übergieng, verlor die pro- teſtantiſche Anſicht an ihrer unmittelbaren Wirkſamkeit, an ihrer, ich möchte ſagen, oppoſitionellen Kraft: ſie ſchien nur noch ein tranſcendentales Intereſſe zu haben, welches bei weitem minder einleuchtete. Vielmehr bekam auf dieſem Boden die Anſicht der Scholaſtiker, welche die Rechtferti- gung allmählig geſchehen läßt, durch die Mittel welche die Kirche darbietet, einen practiſchen, gewiſſermaßen pädagogi-
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Das trident. Conc. Juſtificationslehre.
waltig, weil ſie einem Bedürfniß tieferer Geiſter, das ſich
ſchon lebhaft regte, entgegenkam, und zugleich der Tendenz
der Neuerung, die aus den unleugbaren Mißbräuchen ent-
ſprang, religiöſe Begründung gab.
Und dabei ſtützte ſie ſich auf ſo helle Sprüche der
Schrift!
Der Nachtheil nun, in den dieſe Doctrin bei den ge-
lehrten Verhandlungen gerieth, beſtand zunächſt darin, daß die
tiefern religiöſen Antriebe, die ein perſönliches In-ſich-gehn
vorausſetzen, ſich nur ſchwer als Argumente behandeln laſ-
ſen, gültig auch für Die, in welchen ein Bewußtſeyn der
Unzulänglichkeit der dargebotenen Heilslehre überhaupt nicht
erwacht iſt. Noch wirkſamer aber war Folgendes. Wenn
von der Rechtfertigung allein durch Gnade, ohne gute Werke,
die Rede war, ſo dachte man jetzt nicht mehr an jene kirchli-
chen Handlungen, deren Verdienſtlichkeit vor Gott von Luther
und ſeinen Anhängern urſprünglich beſtritten worden, ſon-
dern an ſittlich-gutes Leben, Wohlverhalten überhaupt, deſ-
ſen Nothwendigkeit kein Menſch weniger in Zweifel gezogen
hatte als Luther, nur daß er in dem Glauben das Urſprüng-
liche ſah, die Quelle, aus der alles Andre fließt. Indem
aber der Streit auf dieſes Gebiet übergieng, verlor die pro-
teſtantiſche Anſicht an ihrer unmittelbaren Wirkſamkeit, an
ihrer, ich möchte ſagen, oppoſitionellen Kraft: ſie ſchien nur
noch ein tranſcendentales Intereſſe zu haben, welches bei
weitem minder einleuchtete. Vielmehr bekam auf dieſem
Boden die Anſicht der Scholaſtiker, welche die Rechtferti-
gung allmählig geſchehen läßt, durch die Mittel welche die
Kirche darbietet, einen practiſchen, gewiſſermaßen pädagogi-
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 4. Berlin, 1843, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation04_1843/495>, abgerufen am 22.11.2024.
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