Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 4. Berlin, 1843.Achtes Buch. Viertes Capitel. schen Werth. Auch wurde sie jetzt um vieles besser vor-getragen als früher; die crassesten Auswüchse wurden ent- fernt; wie die Protestanten bemerkten, auch ihre Gegner hat- ten nun reden gelernt, sie drückten sich in einer zugleich dem Jahrhundert verständlichen und der heiligen Schrift gemäßern Sprache aus; überall zeigte sich die Rückwirkung der in den letzten Jahren angeregten Zweifel; in dem System stellte sich ein innerer das ganze Leben, das freilich um so mehr beichtväterlicher Leitung bedurfte, umfassender Zusammenhang heraus, ohne den es sich wohl nicht würde so lange behauptet haben. Die protestantische Lehre nimmt ihren Standpunct in der Anschauung der unnahbaren Vollkommenheit des gött- lichen Wesens, hauptsächlich der abgewichenen Menschheit gegenüber: nur von seinem Erbarmen rührt die Erlösung, nur von seiner unmittelbaren Einwirkung alle Heiligung her; nur darin besteht die Freiheit des Willens, daß er sich dem göttlichen hingiebt; an die feste Zuversicht auf jene geheim- nißvolle Gnade knüpft sich die Wiedergeburt. Der tridenti- nischen Lehre dagegen ist der Abfall des Menschen durch die Erlösung von vorn herein aufgewogen; in der nach der Taufe zurückbleibenden Begier sieht sie keine Sünde; der Er- löser hat die Rechtfertigung nicht vollzogen, nur möglich ge- macht: Niemand dürfte auf die geschehene Erlösung eine un- bedingte Zuversicht haben: die Rechtfertigung geschieht viel- mehr allmählig, unter Leitung der Kirche und freier Mitwirkung der Menschen. Die protestantische Lehre ist tiefsinniger, tröst- licher; die katholische verständlicher, minder abstract, eingäng- licher. Wer aber in diesen Differenzen das Wesen der bei- den großen welthistorischen Gegensätze sehen wollte, der würde Achtes Buch. Viertes Capitel. ſchen Werth. Auch wurde ſie jetzt um vieles beſſer vor-getragen als früher; die craſſeſten Auswüchſe wurden ent- fernt; wie die Proteſtanten bemerkten, auch ihre Gegner hat- ten nun reden gelernt, ſie drückten ſich in einer zugleich dem Jahrhundert verſtändlichen und der heiligen Schrift gemäßern Sprache aus; überall zeigte ſich die Rückwirkung der in den letzten Jahren angeregten Zweifel; in dem Syſtem ſtellte ſich ein innerer das ganze Leben, das freilich um ſo mehr beichtväterlicher Leitung bedurfte, umfaſſender Zuſammenhang heraus, ohne den es ſich wohl nicht würde ſo lange behauptet haben. Die proteſtantiſche Lehre nimmt ihren Standpunct in der Anſchauung der unnahbaren Vollkommenheit des gött- lichen Weſens, hauptſächlich der abgewichenen Menſchheit gegenüber: nur von ſeinem Erbarmen rührt die Erlöſung, nur von ſeiner unmittelbaren Einwirkung alle Heiligung her; nur darin beſteht die Freiheit des Willens, daß er ſich dem göttlichen hingiebt; an die feſte Zuverſicht auf jene geheim- nißvolle Gnade knüpft ſich die Wiedergeburt. Der tridenti- niſchen Lehre dagegen iſt der Abfall des Menſchen durch die Erlöſung von vorn herein aufgewogen; in der nach der Taufe zurückbleibenden Begier ſieht ſie keine Sünde; der Er- löſer hat die Rechtfertigung nicht vollzogen, nur möglich ge- macht: Niemand dürfte auf die geſchehene Erlöſung eine un- bedingte Zuverſicht haben: die Rechtfertigung geſchieht viel- mehr allmählig, unter Leitung der Kirche und freier Mitwirkung der Menſchen. Die proteſtantiſche Lehre iſt tiefſinniger, tröſt- licher; die katholiſche verſtändlicher, minder abſtract, eingäng- licher. Wer aber in dieſen Differenzen das Weſen der bei- den großen welthiſtoriſchen Gegenſätze ſehen wollte, der würde <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0496" n="484"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Achtes Buch. Viertes Capitel</hi>.</fw><lb/> ſchen Werth. 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Achtes Buch. Viertes Capitel.
ſchen Werth. Auch wurde ſie jetzt um vieles beſſer vor-
getragen als früher; die craſſeſten Auswüchſe wurden ent-
fernt; wie die Proteſtanten bemerkten, auch ihre Gegner hat-
ten nun reden gelernt, ſie drückten ſich in einer zugleich dem
Jahrhundert verſtändlichen und der heiligen Schrift gemäßern
Sprache aus; überall zeigte ſich die Rückwirkung der in den
letzten Jahren angeregten Zweifel; in dem Syſtem ſtellte
ſich ein innerer das ganze Leben, das freilich um ſo mehr
beichtväterlicher Leitung bedurfte, umfaſſender Zuſammenhang
heraus, ohne den es ſich wohl nicht würde ſo lange behauptet
haben. Die proteſtantiſche Lehre nimmt ihren Standpunct in
der Anſchauung der unnahbaren Vollkommenheit des gött-
lichen Weſens, hauptſächlich der abgewichenen Menſchheit
gegenüber: nur von ſeinem Erbarmen rührt die Erlöſung,
nur von ſeiner unmittelbaren Einwirkung alle Heiligung her;
nur darin beſteht die Freiheit des Willens, daß er ſich dem
göttlichen hingiebt; an die feſte Zuverſicht auf jene geheim-
nißvolle Gnade knüpft ſich die Wiedergeburt. Der tridenti-
niſchen Lehre dagegen iſt der Abfall des Menſchen durch
die Erlöſung von vorn herein aufgewogen; in der nach der
Taufe zurückbleibenden Begier ſieht ſie keine Sünde; der Er-
löſer hat die Rechtfertigung nicht vollzogen, nur möglich ge-
macht: Niemand dürfte auf die geſchehene Erlöſung eine un-
bedingte Zuverſicht haben: die Rechtfertigung geſchieht viel-
mehr allmählig, unter Leitung der Kirche und freier Mitwirkung
der Menſchen. Die proteſtantiſche Lehre iſt tiefſinniger, tröſt-
licher; die katholiſche verſtändlicher, minder abſtract, eingäng-
licher. Wer aber in dieſen Differenzen das Weſen der bei-
den großen welthiſtoriſchen Gegenſätze ſehen wollte, der würde
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