Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehntes Buch. Achtes Capitel.
thum und Wahn. Die Erkenntniß der Wahrheit an Einem
Puncte macht sie an andern nothwendig, und ruft das Be-
streben danach hervor. Nach und nach regte sich die For-
schung in jedem Zweige.

Wir überschauen die Arbeit in welcher der deutsche Geist
begriffen war. In allen Gebieten reißt er sich von der Über-
lieferung los, welche sich im Laufe der Zeit in hohem
Grade verfälscht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber
indem er zu ächteren Quellen der Belehrung aufsteigt, be-
merkt er doch was auch diese zu wünschen übrig lassen
Er ist überall bemüht, die Kenntniß welche die Alten be-
saßen zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Systeme
die sie gebildet, ruft er den fragmentarischen Widerstand zu
Hülfe, der sich unter ihnen selbst geregt hat, und schickt sich
an, aus eigner Kraft zur Anschauung der Natur der Dinge
hindurch zu dringen. Die gewonnene religiöse Überzeugung
flößt ihm Vertrauen und Furchtlosigkeit ein: Forschung und
Critik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Bestre-
ben wahr das aus dem Schooße der Nationalität ohne
fremde Einwirkung hervorgegangen wäre: der deutsche Geist
sucht vielmehr den Boden der schon vor Zeiten gegründe-
ten Wissenschaft nun auch seinerseits vollständig zu gewin-
nen und an der Arbeit der Jahrhunderte thätigen Antheil
zu nehmen.

Wenn es eben daher rührt daß Latein die ausschlie-
ßende Sprache der Wissenschaft blieb, so ward doch auch
die auf die Muttersprache angewiesene Bevölkerung von der
Theilnahme an der Bewegung nicht ausgeschlossen.

Schon die theologischen Flugschriften, die Predigten, die

Zehntes Buch. Achtes Capitel.
thum und Wahn. Die Erkenntniß der Wahrheit an Einem
Puncte macht ſie an andern nothwendig, und ruft das Be-
ſtreben danach hervor. Nach und nach regte ſich die For-
ſchung in jedem Zweige.

Wir überſchauen die Arbeit in welcher der deutſche Geiſt
begriffen war. In allen Gebieten reißt er ſich von der Über-
lieferung los, welche ſich im Laufe der Zeit in hohem
Grade verfälſcht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber
indem er zu ächteren Quellen der Belehrung aufſteigt, be-
merkt er doch was auch dieſe zu wünſchen übrig laſſen
Er iſt überall bemüht, die Kenntniß welche die Alten be-
ſaßen zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Syſteme
die ſie gebildet, ruft er den fragmentariſchen Widerſtand zu
Hülfe, der ſich unter ihnen ſelbſt geregt hat, und ſchickt ſich
an, aus eigner Kraft zur Anſchauung der Natur der Dinge
hindurch zu dringen. Die gewonnene religiöſe Überzeugung
flößt ihm Vertrauen und Furchtloſigkeit ein: Forſchung und
Critik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Beſtre-
ben wahr das aus dem Schooße der Nationalität ohne
fremde Einwirkung hervorgegangen wäre: der deutſche Geiſt
ſucht vielmehr den Boden der ſchon vor Zeiten gegründe-
ten Wiſſenſchaft nun auch ſeinerſeits vollſtändig zu gewin-
nen und an der Arbeit der Jahrhunderte thätigen Antheil
zu nehmen.

Wenn es eben daher rührt daß Latein die ausſchlie-
ßende Sprache der Wiſſenſchaft blieb, ſo ward doch auch
die auf die Mutterſprache angewieſene Bevölkerung von der
Theilnahme an der Bewegung nicht ausgeſchloſſen.

Schon die theologiſchen Flugſchriften, die Predigten, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0506" n="494"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zehntes Buch. Achtes Capitel</hi>.</fw><lb/>
thum und Wahn. Die Erkenntniß der Wahrheit an Einem<lb/>
Puncte macht &#x017F;ie an andern nothwendig, und ruft das Be-<lb/>
&#x017F;treben danach hervor. Nach und nach regte &#x017F;ich die For-<lb/>
&#x017F;chung in jedem Zweige.</p><lb/>
          <p>Wir über&#x017F;chauen die Arbeit in welcher der deut&#x017F;che Gei&#x017F;t<lb/>
begriffen war. In allen Gebieten reißt er &#x017F;ich von der Über-<lb/>
lieferung los, welche &#x017F;ich im Laufe der Zeit in hohem<lb/>
Grade verfäl&#x017F;cht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber<lb/>
indem er zu ächteren Quellen der Belehrung auf&#x017F;teigt, be-<lb/>
merkt er doch was auch die&#x017F;e zu wün&#x017F;chen übrig la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Er i&#x017F;t überall bemüht, die Kenntniß welche die Alten be-<lb/>
&#x017F;aßen zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Sy&#x017F;teme<lb/>
die &#x017F;ie gebildet, ruft er den fragmentari&#x017F;chen Wider&#x017F;tand zu<lb/>
Hülfe, der &#x017F;ich unter ihnen &#x017F;elb&#x017F;t geregt hat, und &#x017F;chickt &#x017F;ich<lb/>
an, aus eigner Kraft zur An&#x017F;chauung der Natur der Dinge<lb/>
hindurch zu dringen. Die gewonnene religiö&#x017F;e Überzeugung<lb/>
flößt ihm Vertrauen und Furchtlo&#x017F;igkeit ein: For&#x017F;chung und<lb/>
Critik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Be&#x017F;tre-<lb/>
ben wahr das aus dem Schooße der Nationalität ohne<lb/>
fremde Einwirkung hervorgegangen wäre: der deut&#x017F;che Gei&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ucht vielmehr den Boden der &#x017F;chon vor Zeiten gegründe-<lb/>
ten Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nun auch &#x017F;einer&#x017F;eits voll&#x017F;tändig zu gewin-<lb/>
nen und an der Arbeit der Jahrhunderte thätigen Antheil<lb/>
zu nehmen.</p><lb/>
          <p>Wenn es eben daher rührt daß Latein die aus&#x017F;chlie-<lb/>
ßende Sprache der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft blieb, &#x017F;o ward doch auch<lb/>
die auf die Mutter&#x017F;prache angewie&#x017F;ene Bevölkerung von der<lb/>
Theilnahme an der Bewegung nicht ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Schon die theologi&#x017F;chen Flug&#x017F;chriften, die Predigten, die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[494/0506] Zehntes Buch. Achtes Capitel. thum und Wahn. Die Erkenntniß der Wahrheit an Einem Puncte macht ſie an andern nothwendig, und ruft das Be- ſtreben danach hervor. Nach und nach regte ſich die For- ſchung in jedem Zweige. Wir überſchauen die Arbeit in welcher der deutſche Geiſt begriffen war. In allen Gebieten reißt er ſich von der Über- lieferung los, welche ſich im Laufe der Zeit in hohem Grade verfälſcht und mit Aberglauben erfüllt hatte. Aber indem er zu ächteren Quellen der Belehrung aufſteigt, be- merkt er doch was auch dieſe zu wünſchen übrig laſſen Er iſt überall bemüht, die Kenntniß welche die Alten be- ſaßen zu erweitern und zu ergänzen. Gegen die Syſteme die ſie gebildet, ruft er den fragmentariſchen Widerſtand zu Hülfe, der ſich unter ihnen ſelbſt geregt hat, und ſchickt ſich an, aus eigner Kraft zur Anſchauung der Natur der Dinge hindurch zu dringen. Die gewonnene religiöſe Überzeugung flößt ihm Vertrauen und Furchtloſigkeit ein: Forſchung und Critik werden ihm Natur. Wir nehmen nicht ein Beſtre- ben wahr das aus dem Schooße der Nationalität ohne fremde Einwirkung hervorgegangen wäre: der deutſche Geiſt ſucht vielmehr den Boden der ſchon vor Zeiten gegründe- ten Wiſſenſchaft nun auch ſeinerſeits vollſtändig zu gewin- nen und an der Arbeit der Jahrhunderte thätigen Antheil zu nehmen. Wenn es eben daher rührt daß Latein die ausſchlie- ßende Sprache der Wiſſenſchaft blieb, ſo ward doch auch die auf die Mutterſprache angewieſene Bevölkerung von der Theilnahme an der Bewegung nicht ausgeſchloſſen. Schon die theologiſchen Flugſchriften, die Predigten, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/506
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/506>, abgerufen am 21.11.2024.