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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

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Zehntes Buch. Achtes Capitel.
dert in Nürnberg gesammelt und noch oft hielten sie ihre
Singschule zu St. Catharina. Sie wiederholten gern die
Sage ihrer Altvordern, wie ihre Gesellschaft einst bei ih-
rem Ursprung von allem Verdacht der Ketzerei freigesprochen,
und von Kaiser und Papst bestätigt worden sey; 1 wenn
dann aber das Hauptsingen begann, welches immer schrift-
mäßig seyn mußte, hatte der Vorderste der Merker die lu-
therische Bibel vor sich, und gab Acht, ob das Lied, wie mit
dem Inhalt des Textes, so auch mit den reinen Worten de-
ren sich Doctor Luther bedient hat, übereinstimmte. 2

Von den künstlerischen und poetischen Hervorbringungen
dieser Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meisten Werth,
welche die religiöse Gesinnung aussprechen. Das Kirchenlied,
dessen Ursprung wir berührten, bildete sich von Jahr zu Jahr
mannichfaltiger und eigenthümlicher aus; es vereinigt die
Einfalt der Wahrheit mit dem Schwung und der Tiefe des
auffassenden Gemüthes; es ist zugleich von dem Gefühle des
Kampfes, dessen verschiedene Epochen sich darin ausgedrückt
haben und der Gewißheit des Sieges durchdrungen: es ist oft
wie ein Kriegsgesang gegen den noch immer drohenden Feind.
Und mit dem Liede ist zugleich die Melodie hervorgegangen,
häufig ohne daß man sagen könnte wie das geschehen ist. Nur
geringe Anfänge enthalten die ersten Liederbücher von 1524;
im Jahre 1545 erscheinen schon 98 Melodien, im Jahre 1573,
denn mit der Zeit wuchs auch die Gabe, 165. Biblische

1 Als die vier Urheber bezeichnet Metzgers meisterliche Freiung
der Singer einen hohen Geistlichen, einen Ritter, einen Gelehrten
und einen Handwerker.
2 Wagenseil über die Minnesinger. De civit. Norimberg. 544.

Zehntes Buch. Achtes Capitel.
dert in Nürnberg geſammelt und noch oft hielten ſie ihre
Singſchule zu St. Catharina. Sie wiederholten gern die
Sage ihrer Altvordern, wie ihre Geſellſchaft einſt bei ih-
rem Urſprung von allem Verdacht der Ketzerei freigeſprochen,
und von Kaiſer und Papſt beſtätigt worden ſey; 1 wenn
dann aber das Hauptſingen begann, welches immer ſchrift-
mäßig ſeyn mußte, hatte der Vorderſte der Merker die lu-
theriſche Bibel vor ſich, und gab Acht, ob das Lied, wie mit
dem Inhalt des Textes, ſo auch mit den reinen Worten de-
ren ſich Doctor Luther bedient hat, übereinſtimmte. 2

Von den künſtleriſchen und poetiſchen Hervorbringungen
dieſer Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meiſten Werth,
welche die religiöſe Geſinnung ausſprechen. Das Kirchenlied,
deſſen Urſprung wir berührten, bildete ſich von Jahr zu Jahr
mannichfaltiger und eigenthümlicher aus; es vereinigt die
Einfalt der Wahrheit mit dem Schwung und der Tiefe des
auffaſſenden Gemüthes; es iſt zugleich von dem Gefühle des
Kampfes, deſſen verſchiedene Epochen ſich darin ausgedrückt
haben und der Gewißheit des Sieges durchdrungen: es iſt oft
wie ein Kriegsgeſang gegen den noch immer drohenden Feind.
Und mit dem Liede iſt zugleich die Melodie hervorgegangen,
häufig ohne daß man ſagen könnte wie das geſchehen iſt. Nur
geringe Anfänge enthalten die erſten Liederbücher von 1524;
im Jahre 1545 erſcheinen ſchon 98 Melodien, im Jahre 1573,
denn mit der Zeit wuchs auch die Gabe, 165. Bibliſche

1 Als die vier Urheber bezeichnet Metzgers meiſterliche Freiung
der Singer einen hohen Geiſtlichen, einen Ritter, einen Gelehrten
und einen Handwerker.
2 Wagenſeil uͤber die Minneſinger. De civit. Norimberg. 544.
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[498/0510] Zehntes Buch. Achtes Capitel. dert in Nürnberg geſammelt und noch oft hielten ſie ihre Singſchule zu St. Catharina. Sie wiederholten gern die Sage ihrer Altvordern, wie ihre Geſellſchaft einſt bei ih- rem Urſprung von allem Verdacht der Ketzerei freigeſprochen, und von Kaiſer und Papſt beſtätigt worden ſey; 1 wenn dann aber das Hauptſingen begann, welches immer ſchrift- mäßig ſeyn mußte, hatte der Vorderſte der Merker die lu- theriſche Bibel vor ſich, und gab Acht, ob das Lied, wie mit dem Inhalt des Textes, ſo auch mit den reinen Worten de- ren ſich Doctor Luther bedient hat, übereinſtimmte. 2 Von den künſtleriſchen und poetiſchen Hervorbringungen dieſer Zeit haben wohl diejenigen überhaupt den meiſten Werth, welche die religiöſe Geſinnung ausſprechen. Das Kirchenlied, deſſen Urſprung wir berührten, bildete ſich von Jahr zu Jahr mannichfaltiger und eigenthümlicher aus; es vereinigt die Einfalt der Wahrheit mit dem Schwung und der Tiefe des auffaſſenden Gemüthes; es iſt zugleich von dem Gefühle des Kampfes, deſſen verſchiedene Epochen ſich darin ausgedrückt haben und der Gewißheit des Sieges durchdrungen: es iſt oft wie ein Kriegsgeſang gegen den noch immer drohenden Feind. Und mit dem Liede iſt zugleich die Melodie hervorgegangen, häufig ohne daß man ſagen könnte wie das geſchehen iſt. Nur geringe Anfänge enthalten die erſten Liederbücher von 1524; im Jahre 1545 erſcheinen ſchon 98 Melodien, im Jahre 1573, denn mit der Zeit wuchs auch die Gabe, 165. Bibliſche 1 Als die vier Urheber bezeichnet Metzgers meiſterliche Freiung der Singer einen hohen Geiſtlichen, einen Ritter, einen Gelehrten und einen Handwerker. 2 Wagenſeil uͤber die Minneſinger. De civit. Norimberg. 544.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/510>, abgerufen am 22.05.2024.