Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite

Neuntes Buch. Zweites Capitel.
lag die Einheit der protestantischen Kirche; der freie Fort-
gang ihrer Entwickelung knüpfte sich an ihn. Jetzt war die
Zeit gekommen wo er die Zweifel an seiner moralischen
Stärke, die sich schon regten, widerlegen, durch eine männ-
liche und unnachgiebige Haltung das Zutrauen zur allgemei-
nen Sache befestigen mußte. Welche Autorität würde er
dann gewonnen haben! wie hätte er mit dem wissenschaft-
lichen Sinn und dem religiösen Gefühl die sich in ihm durch-
drangen, die vereinigten Geister noch eine Strecke weiter füh-
ren können! Die Werkstätte der unabhängigen protestanti-
schen Gelehrsamkeit und Theologie, wo sie auch aufgeschla-
gen werden mochte, die war für ihn Wittenberg, nicht jener
Ort an der Elbe. Eine unglückliche locale Vorliebe aber
führte ihn in den Bereich einer staatsklugen und verführeri-
schen Gewalt. Melanchthon drückte sich in jenem Briefe auch
über den ihm schon mitgetheilten Entwurf des Interims sehr
entgegenkommend aus. Er billigte den Artikel über die Kirche
und die Herstellung der Gebräuche: er erwähnte selbst, mit
welchem Vergnügen er in seiner Kindheit die kirchlichen Ceri-
monien mitgemacht; er brachte Vorschläge bei wie die Prediger
zu gewinnen seyen: und meinte noch, seine Mäßigung werde
den Mächtigen nicht genugthun. Sie gereichte ihnen zum
höchsten Erstaunen. Carlowitz theilte den Brief Jedermann
mit, der ihn sehen wollte: zahlreiche Abschriften giengen in
Augsburg von Hand in Hand: die Anwesenden können nicht
ausdrücken, wie zufrieden sich die Prälaten darüber äußer-
ten, wie unglücklich sich die Evangelischen darüber gefühlt
haben; die Gesandten schickten das Actenstück ihren Höfen
ein. Auch dem Kaiser ward das Schreiben vorgelesen: "den

Neuntes Buch. Zweites Capitel.
lag die Einheit der proteſtantiſchen Kirche; der freie Fort-
gang ihrer Entwickelung knüpfte ſich an ihn. Jetzt war die
Zeit gekommen wo er die Zweifel an ſeiner moraliſchen
Stärke, die ſich ſchon regten, widerlegen, durch eine männ-
liche und unnachgiebige Haltung das Zutrauen zur allgemei-
nen Sache befeſtigen mußte. Welche Autorität würde er
dann gewonnen haben! wie hätte er mit dem wiſſenſchaft-
lichen Sinn und dem religiöſen Gefühl die ſich in ihm durch-
drangen, die vereinigten Geiſter noch eine Strecke weiter füh-
ren können! Die Werkſtätte der unabhängigen proteſtanti-
ſchen Gelehrſamkeit und Theologie, wo ſie auch aufgeſchla-
gen werden mochte, die war für ihn Wittenberg, nicht jener
Ort an der Elbe. Eine unglückliche locale Vorliebe aber
führte ihn in den Bereich einer ſtaatsklugen und verführeri-
ſchen Gewalt. Melanchthon drückte ſich in jenem Briefe auch
über den ihm ſchon mitgetheilten Entwurf des Interims ſehr
entgegenkommend aus. Er billigte den Artikel über die Kirche
und die Herſtellung der Gebräuche: er erwähnte ſelbſt, mit
welchem Vergnügen er in ſeiner Kindheit die kirchlichen Ceri-
monien mitgemacht; er brachte Vorſchläge bei wie die Prediger
zu gewinnen ſeyen: und meinte noch, ſeine Mäßigung werde
den Mächtigen nicht genugthun. Sie gereichte ihnen zum
höchſten Erſtaunen. Carlowitz theilte den Brief Jedermann
mit, der ihn ſehen wollte: zahlreiche Abſchriften giengen in
Augsburg von Hand in Hand: die Anweſenden können nicht
ausdrücken, wie zufrieden ſich die Prälaten darüber äußer-
ten, wie unglücklich ſich die Evangeliſchen darüber gefühlt
haben; die Geſandten ſchickten das Actenſtück ihren Höfen
ein. Auch dem Kaiſer ward das Schreiben vorgeleſen: „den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0090" n="78"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Buch. Zweites Capitel</hi>.</fw><lb/>
lag die Einheit der prote&#x017F;tanti&#x017F;chen Kirche; der freie Fort-<lb/>
gang ihrer Entwickelung knüpfte &#x017F;ich an ihn. Jetzt war die<lb/>
Zeit gekommen wo er die Zweifel an &#x017F;einer morali&#x017F;chen<lb/>
Stärke, die &#x017F;ich &#x017F;chon regten, widerlegen, durch eine männ-<lb/>
liche und unnachgiebige Haltung das Zutrauen zur allgemei-<lb/>
nen Sache befe&#x017F;tigen mußte. Welche Autorität würde er<lb/>
dann gewonnen haben! wie hätte er mit dem wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Sinn und dem religiö&#x017F;en Gefühl die &#x017F;ich in ihm durch-<lb/>
drangen, die vereinigten Gei&#x017F;ter noch eine Strecke weiter füh-<lb/>
ren können! Die Werk&#x017F;tätte der unabhängigen prote&#x017F;tanti-<lb/>
&#x017F;chen Gelehr&#x017F;amkeit und Theologie, wo &#x017F;ie auch aufge&#x017F;chla-<lb/>
gen werden mochte, die war für ihn Wittenberg, nicht jener<lb/>
Ort an der Elbe. Eine unglückliche locale Vorliebe aber<lb/>
führte ihn in den Bereich einer &#x017F;taatsklugen und verführeri-<lb/>
&#x017F;chen Gewalt. Melanchthon drückte &#x017F;ich in jenem Briefe auch<lb/>
über den ihm &#x017F;chon mitgetheilten Entwurf des Interims &#x017F;ehr<lb/>
entgegenkommend aus. Er billigte den Artikel über die Kirche<lb/>
und die Her&#x017F;tellung der Gebräuche: er erwähnte &#x017F;elb&#x017F;t, mit<lb/>
welchem Vergnügen er in &#x017F;einer Kindheit die kirchlichen Ceri-<lb/>
monien mitgemacht; er brachte Vor&#x017F;chläge bei wie die Prediger<lb/>
zu gewinnen &#x017F;eyen: und meinte noch, &#x017F;eine Mäßigung werde<lb/>
den Mächtigen nicht genugthun. Sie gereichte ihnen zum<lb/>
höch&#x017F;ten Er&#x017F;taunen. Carlowitz theilte den Brief Jedermann<lb/>
mit, der ihn &#x017F;ehen wollte: zahlreiche Ab&#x017F;chriften giengen in<lb/>
Augsburg von Hand in Hand: die Anwe&#x017F;enden können nicht<lb/>
ausdrücken, wie zufrieden &#x017F;ich die Prälaten darüber äußer-<lb/>
ten, wie unglücklich &#x017F;ich die Evangeli&#x017F;chen darüber gefühlt<lb/>
haben; die Ge&#x017F;andten &#x017F;chickten das Acten&#x017F;tück ihren Höfen<lb/>
ein. Auch dem Kai&#x017F;er ward das Schreiben vorgele&#x017F;en: &#x201E;den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0090] Neuntes Buch. Zweites Capitel. lag die Einheit der proteſtantiſchen Kirche; der freie Fort- gang ihrer Entwickelung knüpfte ſich an ihn. Jetzt war die Zeit gekommen wo er die Zweifel an ſeiner moraliſchen Stärke, die ſich ſchon regten, widerlegen, durch eine männ- liche und unnachgiebige Haltung das Zutrauen zur allgemei- nen Sache befeſtigen mußte. Welche Autorität würde er dann gewonnen haben! wie hätte er mit dem wiſſenſchaft- lichen Sinn und dem religiöſen Gefühl die ſich in ihm durch- drangen, die vereinigten Geiſter noch eine Strecke weiter füh- ren können! Die Werkſtätte der unabhängigen proteſtanti- ſchen Gelehrſamkeit und Theologie, wo ſie auch aufgeſchla- gen werden mochte, die war für ihn Wittenberg, nicht jener Ort an der Elbe. Eine unglückliche locale Vorliebe aber führte ihn in den Bereich einer ſtaatsklugen und verführeri- ſchen Gewalt. Melanchthon drückte ſich in jenem Briefe auch über den ihm ſchon mitgetheilten Entwurf des Interims ſehr entgegenkommend aus. Er billigte den Artikel über die Kirche und die Herſtellung der Gebräuche: er erwähnte ſelbſt, mit welchem Vergnügen er in ſeiner Kindheit die kirchlichen Ceri- monien mitgemacht; er brachte Vorſchläge bei wie die Prediger zu gewinnen ſeyen: und meinte noch, ſeine Mäßigung werde den Mächtigen nicht genugthun. Sie gereichte ihnen zum höchſten Erſtaunen. Carlowitz theilte den Brief Jedermann mit, der ihn ſehen wollte: zahlreiche Abſchriften giengen in Augsburg von Hand in Hand: die Anweſenden können nicht ausdrücken, wie zufrieden ſich die Prälaten darüber äußer- ten, wie unglücklich ſich die Evangeliſchen darüber gefühlt haben; die Geſandten ſchickten das Actenſtück ihren Höfen ein. Auch dem Kaiſer ward das Schreiben vorgeleſen: „den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/90
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/90>, abgerufen am 21.11.2024.