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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

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Haltung Melanchthons.
Gewährung eben jener Fürbitte für Jonas dankte, 1 ver-
lor er das größte Verhältniß seiner frühern Zeiten, das ihn
zu dem Manne in der Welt gemacht hatte der er war,
die Freundschaft zu Luther, ganz aus den Augen. Das Ge-
fühl der Befriedigung brachte ihm ältere vorübergegangene
der Verstimmungen ins Gedächtniß. Er ließ Klagen über Lu-
thers Eigensinn und Streitsucht einfließen: er erlaubte sich
Seitenblicke auf die frühern Herrn. Melanchthons Briefwech-
sel erweckt sonst immer Theilnahme, Verehrung, Liebe: diesen
Brief aber wollte ich, hätte er nie geschrieben. Es mag
seyn daß er, wenigstens bis auf einen gewissen Grad, Recht
hatte: wer würde es ihm verargen, wenn er seine Klagen,
zu jener Zeit, in den Busen eines Freundes ausgeschüttet
hätte. Jetzt aber, nach der Katastrophe seines Fürsten, nach
dem Tode des Freundes, Klagen gegen Den, in welchem
dieser immer einen Widersacher gesehen, und der das Meiste
dazu beigetragen hatte jenen zu stürzen! -- nun, man sieht,
wohin auch ein edler Mensch, von momentanen Bezie-
hungen übernommen, gerathen kann. Melanchthon glaubte
wohl in seiner Bescheidenheit, daß er ein einfacher Gelehrter
sey. Ein Gelehrter aber wie er, der an den großen Ereig-
nissen mithandelnd Antheil nimmt, führt kein Privatleben:
er hat die Pflicht eines Staatsmanns, immer das Ganze
seiner Thätigkeit im Auge zu behalten, seine Vergangenheit,
die unaufhörlich fortwirkt, nicht aufzugeben im überwiegenden
Gefühl der Nothwendigkeiten des vorhandenen Augenblickes.
Und für ihn war diese Pflicht ganz besonders dringend. In
ihm mehr als in irgend einem andern lebenden Menschen

1 28 April 1548. Corp. Ref. VI, p. 879.

Haltung Melanchthons.
Gewährung eben jener Fürbitte für Jonas dankte, 1 ver-
lor er das größte Verhältniß ſeiner frühern Zeiten, das ihn
zu dem Manne in der Welt gemacht hatte der er war,
die Freundſchaft zu Luther, ganz aus den Augen. Das Ge-
fühl der Befriedigung brachte ihm ältere vorübergegangene
der Verſtimmungen ins Gedächtniß. Er ließ Klagen über Lu-
thers Eigenſinn und Streitſucht einfließen: er erlaubte ſich
Seitenblicke auf die frühern Herrn. Melanchthons Briefwech-
ſel erweckt ſonſt immer Theilnahme, Verehrung, Liebe: dieſen
Brief aber wollte ich, hätte er nie geſchrieben. Es mag
ſeyn daß er, wenigſtens bis auf einen gewiſſen Grad, Recht
hatte: wer würde es ihm verargen, wenn er ſeine Klagen,
zu jener Zeit, in den Buſen eines Freundes ausgeſchüttet
hätte. Jetzt aber, nach der Kataſtrophe ſeines Fürſten, nach
dem Tode des Freundes, Klagen gegen Den, in welchem
dieſer immer einen Widerſacher geſehen, und der das Meiſte
dazu beigetragen hatte jenen zu ſtürzen! — nun, man ſieht,
wohin auch ein edler Menſch, von momentanen Bezie-
hungen übernommen, gerathen kann. Melanchthon glaubte
wohl in ſeiner Beſcheidenheit, daß er ein einfacher Gelehrter
ſey. Ein Gelehrter aber wie er, der an den großen Ereig-
niſſen mithandelnd Antheil nimmt, führt kein Privatleben:
er hat die Pflicht eines Staatsmanns, immer das Ganze
ſeiner Thätigkeit im Auge zu behalten, ſeine Vergangenheit,
die unaufhörlich fortwirkt, nicht aufzugeben im überwiegenden
Gefühl der Nothwendigkeiten des vorhandenen Augenblickes.
Und für ihn war dieſe Pflicht ganz beſonders dringend. In
ihm mehr als in irgend einem andern lebenden Menſchen

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[77/0089] Haltung Melanchthons. Gewährung eben jener Fürbitte für Jonas dankte, 1 ver- lor er das größte Verhältniß ſeiner frühern Zeiten, das ihn zu dem Manne in der Welt gemacht hatte der er war, die Freundſchaft zu Luther, ganz aus den Augen. Das Ge- fühl der Befriedigung brachte ihm ältere vorübergegangene der Verſtimmungen ins Gedächtniß. Er ließ Klagen über Lu- thers Eigenſinn und Streitſucht einfließen: er erlaubte ſich Seitenblicke auf die frühern Herrn. Melanchthons Briefwech- ſel erweckt ſonſt immer Theilnahme, Verehrung, Liebe: dieſen Brief aber wollte ich, hätte er nie geſchrieben. Es mag ſeyn daß er, wenigſtens bis auf einen gewiſſen Grad, Recht hatte: wer würde es ihm verargen, wenn er ſeine Klagen, zu jener Zeit, in den Buſen eines Freundes ausgeſchüttet hätte. Jetzt aber, nach der Kataſtrophe ſeines Fürſten, nach dem Tode des Freundes, Klagen gegen Den, in welchem dieſer immer einen Widerſacher geſehen, und der das Meiſte dazu beigetragen hatte jenen zu ſtürzen! — nun, man ſieht, wohin auch ein edler Menſch, von momentanen Bezie- hungen übernommen, gerathen kann. Melanchthon glaubte wohl in ſeiner Beſcheidenheit, daß er ein einfacher Gelehrter ſey. Ein Gelehrter aber wie er, der an den großen Ereig- niſſen mithandelnd Antheil nimmt, führt kein Privatleben: er hat die Pflicht eines Staatsmanns, immer das Ganze ſeiner Thätigkeit im Auge zu behalten, ſeine Vergangenheit, die unaufhörlich fortwirkt, nicht aufzugeben im überwiegenden Gefühl der Nothwendigkeiten des vorhandenen Augenblickes. Und für ihn war dieſe Pflicht ganz beſonders dringend. In ihm mehr als in irgend einem andern lebenden Menſchen 1 28 April 1548. Corp. Ref. VI, p. 879.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/89>, abgerufen am 24.11.2024.