Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

chem er mit Unrecht sals, aber aufgehalten wur-
de und die Hoffnung zur Freiheit auf immer ver-
lohr. Dem Kranken entwischte seit diesem un-
glücklichen Zeitpunkt kein Wort, kein Seufzer
mehr. In seinen Gliedern, sogar in seinen Au-
gen, war nicht die geringste Bewegung sichtbar.
Man hätte ihn für eine Bildsäule halten können.
In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmit-
teln zu sich. Es wurden Versuche gemacht, ihm
flüssige Dinge durch Hülfe eines Trichters
einzugiessen; aber umsonst. Er gab alles ohne
Gefühl wieder von sich und starb wie einer ein-
schläft *). Ich sah einmal eine andere, aber eben
so merkwürdige Wirkung der Furcht auf das
Muskelsystem. Ein reicher und rüstiger Mörder
wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch
Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen.
Er berauschte seine Wächter mit Wein, dass sie
einschliefen. Nun versuchte er zu entfliehn und
konnte es. Denn das Haus stand gegen den Gar-
ten offen und dieser war mit einer niedrigen
Mauer von etwan drey Fuss Höhe eingeschlossen.
Allein am Morgen fand man ihn noch an dersel-
ben herumhüpfend und alle seine Anstrengungen,
über dieselbe zu setzen, waren umsonst gewesen.

Eben diese Starrsucht, die wir bis jetzt in
den Vorstellungsvermögen aufgesucht haben, affi-
cirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen-

*) Mem. du Marquis A *** p. 447.

chem er mit Unrecht ſals, aber aufgehalten wur-
de und die Hoffnung zur Freiheit auf immer ver-
lohr. Dem Kranken entwiſchte ſeit dieſem un-
glücklichen Zeitpunkt kein Wort, kein Seufzer
mehr. In ſeinen Gliedern, ſogar in ſeinen Au-
gen, war nicht die geringſte Bewegung ſichtbar.
Man hätte ihn für eine Bildſäule halten können.
In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmit-
teln zu ſich. Es wurden Verſuche gemacht, ihm
flüſſige Dinge durch Hülfe eines Trichters
einzugieſsen; aber umſonſt. Er gab alles ohne
Gefühl wieder von ſich und ſtarb wie einer ein-
ſchläft *). Ich ſah einmal eine andere, aber eben
ſo merkwürdige Wirkung der Furcht auf das
Muskelſyſtem. Ein reicher und rüſtiger Mörder
wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch
Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen.
Er berauſchte ſeine Wächter mit Wein, daſs ſie
einſchliefen. Nun verſuchte er zu entfliehn und
konnte es. Denn das Haus ſtand gegen den Gar-
ten offen und dieſer war mit einer niedrigen
Mauer von etwan drey Fuſs Höhe eingeſchloſſen.
Allein am Morgen fand man ihn noch an derſel-
ben herumhüpfend und alle ſeine Anſtrengungen,
über dieſelbe zu ſetzen, waren umſonſt geweſen.

Eben dieſe Starrſucht, die wir bis jetzt in
den Vorſtellungsvermögen aufgeſucht haben, affi-
cirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen-

*) Mém. du Marquis A *** p. 447.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0135" n="130"/>
chem er mit Unrecht &#x017F;als, aber aufgehalten wur-<lb/>
de und die Hoffnung zur Freiheit auf immer ver-<lb/>
lohr. Dem Kranken entwi&#x017F;chte &#x017F;eit die&#x017F;em un-<lb/>
glücklichen Zeitpunkt kein Wort, kein Seufzer<lb/>
mehr. In &#x017F;einen Gliedern, &#x017F;ogar in &#x017F;einen Au-<lb/>
gen, war nicht die gering&#x017F;te Bewegung &#x017F;ichtbar.<lb/>
Man hätte ihn für eine Bild&#x017F;äule halten können.<lb/>
In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmit-<lb/>
teln zu &#x017F;ich. Es wurden Ver&#x017F;uche gemacht, ihm<lb/>
flü&#x017F;&#x017F;ige Dinge durch Hülfe eines Trichters<lb/>
einzugie&#x017F;sen; aber um&#x017F;on&#x017F;t. Er gab alles ohne<lb/>
Gefühl wieder von &#x017F;ich und &#x017F;tarb wie einer ein-<lb/>
&#x017F;chläft <note place="foot" n="*)">Mém. du <hi rendition="#g">Marquis</hi> A *** p. 447.</note>. Ich &#x017F;ah einmal eine andere, aber eben<lb/>
&#x017F;o merkwürdige Wirkung der Furcht auf das<lb/>
Muskel&#x017F;y&#x017F;tem. Ein reicher und rü&#x017F;tiger Mörder<lb/>
wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch<lb/>
Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen.<lb/>
Er berau&#x017F;chte &#x017F;eine Wächter mit Wein, da&#x017F;s &#x017F;ie<lb/>
ein&#x017F;chliefen. Nun ver&#x017F;uchte er zu entfliehn und<lb/>
konnte es. Denn das Haus &#x017F;tand gegen den Gar-<lb/>
ten offen und die&#x017F;er war mit einer niedrigen<lb/>
Mauer von etwan drey Fu&#x017F;s Höhe einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Allein am Morgen fand man ihn noch an der&#x017F;el-<lb/>
ben herumhüpfend und alle &#x017F;eine An&#x017F;trengungen,<lb/>
über die&#x017F;elbe zu &#x017F;etzen, waren um&#x017F;on&#x017F;t gewe&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Eben die&#x017F;e Starr&#x017F;ucht, die wir bis jetzt in<lb/>
den Vor&#x017F;tellungsvermögen aufge&#x017F;ucht haben, affi-<lb/>
cirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0135] chem er mit Unrecht ſals, aber aufgehalten wur- de und die Hoffnung zur Freiheit auf immer ver- lohr. Dem Kranken entwiſchte ſeit dieſem un- glücklichen Zeitpunkt kein Wort, kein Seufzer mehr. In ſeinen Gliedern, ſogar in ſeinen Au- gen, war nicht die geringſte Bewegung ſichtbar. Man hätte ihn für eine Bildſäule halten können. In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmit- teln zu ſich. Es wurden Verſuche gemacht, ihm flüſſige Dinge durch Hülfe eines Trichters einzugieſsen; aber umſonſt. Er gab alles ohne Gefühl wieder von ſich und ſtarb wie einer ein- ſchläft *). Ich ſah einmal eine andere, aber eben ſo merkwürdige Wirkung der Furcht auf das Muskelſyſtem. Ein reicher und rüſtiger Mörder wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen. Er berauſchte ſeine Wächter mit Wein, daſs ſie einſchliefen. Nun verſuchte er zu entfliehn und konnte es. Denn das Haus ſtand gegen den Gar- ten offen und dieſer war mit einer niedrigen Mauer von etwan drey Fuſs Höhe eingeſchloſſen. Allein am Morgen fand man ihn noch an derſel- ben herumhüpfend und alle ſeine Anſtrengungen, über dieſelbe zu ſetzen, waren umſonſt geweſen. Eben dieſe Starrſucht, die wir bis jetzt in den Vorſtellungsvermögen aufgeſucht haben, affi- cirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen- *) Mém. du Marquis A *** p. 447.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/135
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/135>, abgerufen am 15.05.2024.