und hässlichen Gespenstern umgeben. Man hielt dies für Krankheit des Gehirns und behandelte sie dieser Idee gemäss, aber ohne Erfolg. Eines Tages lief sie verzweiflungsvoll in ihrem Zimmer herum, und Jemand, der bemüht war, sie zu halten, legte zufällig seine Hand auf eines ihrer Augen. Augenblicklich waren alle Gespenster und mit demselben ihre Angst verschwunden; aber sie kehrten in dem nemlichen Moment zurück, in welchem die Hand vom Auge genommen wur- de. Durch diese Versuche, die man oft wieder- holte, kam man auf ein einfaches Mittel wider ihr Uebel, man band nemlich das Auge zu, wel- ches krank war. Der zweite Fall ist diesem ähnlich. Eine Person sah Phantome bey völliger Besinnung am Ende einer hitzigen Krankheit, an der sie auch starb, die verschwanden, sobald sie die Augen schloss. Zu den im Gehirn vorhande- nen Thätigkeiten, die als Reize andere wecken, haben wir keinen unmittelbaren Zugang. Indess können wir doch vorhandene Ideenreihen dadurch auslöschen, dass wir die Ursachen entfernen, die sie erregen, und vermittelst der Sinnorgane und durch Hülfe des Vorsatzes neue Züge einschieben, durch welche die alten verdrängt werden. In einem gesunden Menschen geschieht dies mit gro- sser Schnelligkeit. Er liest die Verse: diffuge- re nives, redeunt jam gramina campis, arboribusque comae, in demselben Augen- blick tritt sein alter Schulfreund herein; weg sind
und häſslichen Geſpenſtern umgeben. Man hielt dies für Krankheit des Gehirns und behandelte ſie dieſer Idee gemäſs, aber ohne Erfolg. Eines Tages lief ſie verzweiflungsvoll in ihrem Zimmer herum, und Jemand, der bemüht war, ſie zu halten, legte zufällig ſeine Hand auf eines ihrer Augen. Augenblicklich waren alle Geſpenſter und mit demſelben ihre Angſt verſchwunden; aber ſie kehrten in dem nemlichen Moment zurück, in welchem die Hand vom Auge genommen wur- de. Durch dieſe Verſuche, die man oft wieder- holte, kam man auf ein einfaches Mittel wider ihr Uebel, man band nemlich das Auge zu, wel- ches krank war. Der zweite Fall iſt dieſem ähnlich. Eine Perſon ſah Phantome bey völliger Beſinnung am Ende einer hitzigen Krankheit, an der ſie auch ſtarb, die verſchwanden, ſobald ſie die Augen ſchloſs. Zu den im Gehirn vorhande- nen Thätigkeiten, die als Reize andere wecken, haben wir keinen unmittelbaren Zugang. Indeſs können wir doch vorhandene Ideenreihen dadurch auslöſchen, daſs wir die Urſachen entfernen, die ſie erregen, und vermittelſt der Sinnorgane und durch Hülfe des Vorſatzes neue Züge einſchieben, durch welche die alten verdrängt werden. In einem geſunden Menſchen geſchieht dies mit gro- ſser Schnelligkeit. Er lieſt die Verſe: diffuge- re nives, redeunt jam gramina campis, arboribusque comae, in demſelben Augen- blick tritt ſein alter Schulfreund herein; weg ſind
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und häſslichen Geſpenſtern umgeben. Man hielt
dies für Krankheit des Gehirns und behandelte
ſie dieſer Idee gemäſs, aber ohne Erfolg. Eines
Tages lief ſie verzweiflungsvoll in ihrem Zimmer
herum, und Jemand, der bemüht war, ſie zu
halten, legte zufällig ſeine Hand auf eines ihrer
Augen. Augenblicklich waren alle Geſpenſter
und mit demſelben ihre Angſt verſchwunden;
aber ſie kehrten in dem nemlichen Moment zurück,
in welchem die Hand vom Auge genommen wur-
de. Durch dieſe Verſuche, die man oft wieder-
holte, kam man auf ein einfaches Mittel wider
ihr Uebel, man band nemlich das Auge zu, wel-
ches krank war. Der zweite Fall iſt dieſem
ähnlich. Eine Perſon ſah Phantome bey völliger
Beſinnung am Ende einer hitzigen Krankheit, an
der ſie auch ſtarb, die verſchwanden, ſobald ſie
die Augen ſchloſs. Zu den im Gehirn vorhande-
nen Thätigkeiten, die als Reize andere wecken,
haben wir keinen unmittelbaren Zugang. Indeſs
können wir doch vorhandene Ideenreihen dadurch
auslöſchen, daſs wir die Urſachen entfernen, die
ſie erregen, und vermittelſt der Sinnorgane und
durch Hülfe des Vorſatzes neue Züge einſchieben,
durch welche die alten verdrängt werden. In
einem geſunden Menſchen geſchieht dies mit gro-
ſser Schnelligkeit. Er lieſt die Verſe: diffuge-
re nives, redeunt jam gramina campis,
arboribusque comae, in demſelben Augen-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/177>, abgerufen am 21.11.2024.
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