diesem Intervall in seiner ursprünglichen Stärke wieder. Eine Mutter, die von zwey Kindern eins zur Zeit verlohr, als das andere noch ge- fährlich krank lag, wurde erst dann schwer- müthig als das letzte zu genesen anfing. Daher der Vortheil einer Reise zur Zerstreuung in leich- ten Unglücksfällen. Sie beschäfftigt uns, lässt uns aber dabey Augenblicke übrig, an unser Uebel zurückzudenken. Darin lag vielleicht der Grund, sagt Hoffbauer*), dass viele Einhei- mische, aber wenig Ausgewanderte durch die französische Revolution um ihren Verstand ka- men. Diese wurden nemlich durch die Reise, durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt, und in der Folge für den Erwerb ihres Lebens- unterhalts von dem Andenken an ihr Unglück abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwischenräume genug übrig, sich dessen zu erinnern und sich mit demselben zu familiarisiren. Das Zerstreuungs- mittel muss endlich einerley Ton mit der Idee haben, an welche der Kranke gefesselt ist. Oderunt hilarem, tristes; tristemque jocosi; sedatum, celeres; agilem gnavumque, remissi. Eine fröhliche und rauschende Gesellschaft zerreisst einer Mutter das Herz, die durch den Verlust ihres Kindes gebeugt ist. Hingegen sind Men- schen, die das nemliche Unglück erlitten haben, oder einen warmen Antheil an ihrem Verlust
*) l. c. I. Th. 176 S.
M
dieſem Intervall in ſeiner urſprünglichen Stärke wieder. Eine Mutter, die von zwey Kindern eins zur Zeit verlohr, als das andere noch ge- fährlich krank lag, wurde erſt dann ſchwer- müthig als das letzte zu geneſen anfing. Daher der Vortheil einer Reiſe zur Zerſtreuung in leich- ten Unglücksfällen. Sie beſchäfftigt uns, läſst uns aber dabey Augenblicke übrig, an unſer Uebel zurückzudenken. Darin lag vielleicht der Grund, ſagt Hoffbauer*), daſs viele Einhei- miſche, aber wenig Ausgewanderte durch die franzöſiſche Revolution um ihren Verſtand ka- men. Dieſe wurden nemlich durch die Reiſe, durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt, und in der Folge für den Erwerb ihres Lebens- unterhalts von dem Andenken an ihr Unglück abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwiſchenräume genug übrig, ſich deſſen zu erinnern und ſich mit demſelben zu familiariſiren. Das Zerſtreuungs- mittel muſs endlich einerley Ton mit der Idee haben, an welche der Kranke gefeſſelt iſt. Oderunt hilarem, triſtes; triſtemque jocoſi; ſedatum, celeres; agilem gnavumque, remiſſi. Eine fröhliche und rauſchende Geſellſchaft zerreiſst einer Mutter das Herz, die durch den Verluſt ihres Kindes gebeugt iſt. Hingegen ſind Men- ſchen, die das nemliche Unglück erlitten haben, oder einen warmen Antheil an ihrem Verluſt
*) l. c. I. Th. 176 S.
M
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0182"n="177"/>
dieſem Intervall in ſeiner urſprünglichen Stärke<lb/>
wieder. Eine Mutter, die von zwey Kindern<lb/>
eins zur Zeit verlohr, als das andere noch ge-<lb/>
fährlich krank lag, wurde erſt dann ſchwer-<lb/>
müthig als das letzte zu geneſen anfing. Daher<lb/>
der Vortheil einer Reiſe zur Zerſtreuung in leich-<lb/>
ten Unglücksfällen. Sie beſchäfftigt uns, läſst<lb/>
uns aber dabey Augenblicke übrig, an unſer<lb/>
Uebel zurückzudenken. Darin lag vielleicht der<lb/>
Grund, ſagt <hirendition="#g">Hoffbauer</hi><noteplace="foot"n="*)">l. c. I. Th. 176 S.</note>, daſs viele Einhei-<lb/>
miſche, aber wenig Ausgewanderte durch die<lb/>
franzöſiſche Revolution um ihren Verſtand ka-<lb/>
men. Dieſe wurden nemlich durch die Reiſe,<lb/>
durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt,<lb/>
und in der Folge für den Erwerb ihres Lebens-<lb/>
unterhalts von dem Andenken an ihr Unglück<lb/>
abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwiſchenräume<lb/>
genug übrig, ſich deſſen zu erinnern und ſich mit<lb/>
demſelben zu familiariſiren. Das Zerſtreuungs-<lb/>
mittel muſs endlich <hirendition="#g">einerley Ton mit der<lb/>
Idee haben</hi>, an welche der Kranke gefeſſelt<lb/>
iſt. Oderunt hilarem, triſtes; triſtemque jocoſi;<lb/>ſedatum, celeres; agilem gnavumque, remiſſi.<lb/>
Eine fröhliche und rauſchende Geſellſchaft zerreiſst<lb/>
einer Mutter das Herz, die durch den Verluſt<lb/>
ihres Kindes gebeugt iſt. Hingegen ſind Men-<lb/>ſchen, die das nemliche Unglück erlitten haben,<lb/>
oder einen warmen Antheil an ihrem Verluſt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[177/0182]
dieſem Intervall in ſeiner urſprünglichen Stärke
wieder. Eine Mutter, die von zwey Kindern
eins zur Zeit verlohr, als das andere noch ge-
fährlich krank lag, wurde erſt dann ſchwer-
müthig als das letzte zu geneſen anfing. Daher
der Vortheil einer Reiſe zur Zerſtreuung in leich-
ten Unglücksfällen. Sie beſchäfftigt uns, läſst
uns aber dabey Augenblicke übrig, an unſer
Uebel zurückzudenken. Darin lag vielleicht der
Grund, ſagt Hoffbauer *), daſs viele Einhei-
miſche, aber wenig Ausgewanderte durch die
franzöſiſche Revolution um ihren Verſtand ka-
men. Dieſe wurden nemlich durch die Reiſe,
durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt,
und in der Folge für den Erwerb ihres Lebens-
unterhalts von dem Andenken an ihr Unglück
abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwiſchenräume
genug übrig, ſich deſſen zu erinnern und ſich mit
demſelben zu familiariſiren. Das Zerſtreuungs-
mittel muſs endlich einerley Ton mit der
Idee haben, an welche der Kranke gefeſſelt
iſt. Oderunt hilarem, triſtes; triſtemque jocoſi;
ſedatum, celeres; agilem gnavumque, remiſſi.
Eine fröhliche und rauſchende Geſellſchaft zerreiſst
einer Mutter das Herz, die durch den Verluſt
ihres Kindes gebeugt iſt. Hingegen ſind Men-
ſchen, die das nemliche Unglück erlitten haben,
oder einen warmen Antheil an ihrem Verluſt
*) l. c. I. Th. 176 S.
M
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/182>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.