Chiarugi*) trägt kein Bedenken, ihn den Verrückten zu verstatten, und glaubt, dass er vorzüglich zur Heilung der Melancholie beitragen könne. Männern kann man durch eine öffentli- che Dirne, Weibern schwerer genügen, weil sie schwanger werden, und ihr Uebel auf die Frucht forterben können. An sich möchte vielleicht ei- ne Schwangerschaft heilsam seyn, als Ableitungs- mittel, und besonders für solche Verrückte, die vor Gram über kinderlose Ehen hysterisch geworden sind, oder an der fixen Idee leiden, dass sie schwanger sind, und gebähren müssen. Die bei- den Pole des Körpers, Kopf und Geschlechts- theile, stehn in einer merkwürdigen Wechselwir- kung. Erschütterungen des einen Endpunkts durch Beischlaf und Schwangerschaft befreien den entgegengesetzten von Anhäufung. Die häufigen Aeusserungen der Geilheit verrückter Personen, sind sie allemal das, wofür sie gehalten werden, Ursache der Krankheit? Können sie nicht auch Wirkungen des nemlichen Zustandes, z. B. einer Ueberladung mit elektrischer Materie seyn, die im Kopf als Tobsucht, in den Geschlechtstheilen als Geilheit repräsentirt wird? In Verrücktheiten, deren Ursache Geilheit ist, kann der Beischlaf als körperliches Heilmittel wirken. Endlich wirkt die physische Liebe noch auf das moralische Ge-
*) Abhandlung über den Wahnsinn; aus dem Ita- lienischen, Leipzig 1795. 300 S.
Chiarugi*) trägt kein Bedenken, ihn den Verrückten zu verſtatten, und glaubt, daſs er vorzüglich zur Heilung der Melancholie beitragen könne. Männern kann man durch eine öffentli- che Dirne, Weibern ſchwerer genügen, weil ſie ſchwanger werden, und ihr Uebel auf die Frucht forterben können. An ſich möchte vielleicht ei- ne Schwangerſchaft heilſam ſeyn, als Ableitungs- mittel, und beſonders für ſolche Verrückte, die vor Gram über kinderloſe Ehen hyſteriſch geworden ſind, oder an der fixen Idee leiden, daſs ſie ſchwanger ſind, und gebähren müſſen. Die bei- den Pole des Körpers, Kopf und Geſchlechts- theile, ſtehn in einer merkwürdigen Wechſelwir- kung. Erſchütterungen des einen Endpunkts durch Beiſchlaf und Schwangerſchaft befreien den entgegengeſetzten von Anhäufung. Die häufigen Aeuſserungen der Geilheit verrückter Perſonen, ſind ſie allemal das, wofür ſie gehalten werden, Urſache der Krankheit? Können ſie nicht auch Wirkungen des nemlichen Zuſtandes, z. B. einer Ueberladung mit elektriſcher Materie ſeyn, die im Kopf als Tobſucht, in den Geſchlechtstheilen als Geilheit repräſentirt wird? In Verrücktheiten, deren Urſache Geilheit iſt, kann der Beiſchlaf als körperliches Heilmittel wirken. Endlich wirkt die phyſiſche Liebe noch auf das moraliſche Ge-
*) Abhandlung über den Wahnſinn; aus dem Ita- lieniſchen, Leipzig 1795. 300 S.
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Chiarugi *) trägt kein Bedenken, ihn den
Verrückten zu verſtatten, und glaubt, daſs er
vorzüglich zur Heilung der Melancholie beitragen
könne. Männern kann man durch eine öffentli-
che Dirne, Weibern ſchwerer genügen, weil ſie
ſchwanger werden, und ihr Uebel auf die Frucht
forterben können. An ſich möchte vielleicht ei-
ne Schwangerſchaft heilſam ſeyn, als Ableitungs-
mittel, und beſonders für ſolche Verrückte, die
vor Gram über kinderloſe Ehen hyſteriſch geworden
ſind, oder an der fixen Idee leiden, daſs ſie
ſchwanger ſind, und gebähren müſſen. Die bei-
den Pole des Körpers, Kopf und Geſchlechts-
theile, ſtehn in einer merkwürdigen Wechſelwir-
kung. Erſchütterungen des einen Endpunkts
durch Beiſchlaf und Schwangerſchaft befreien den
entgegengeſetzten von Anhäufung. Die häufigen
Aeuſserungen der Geilheit verrückter Perſonen,
ſind ſie allemal das, wofür ſie gehalten werden,
Urſache der Krankheit? Können ſie nicht auch
Wirkungen des nemlichen Zuſtandes, z. B. einer
Ueberladung mit elektriſcher Materie ſeyn, die
im Kopf als Tobſucht, in den Geſchlechtstheilen
als Geilheit repräſentirt wird? In Verrücktheiten,
deren Urſache Geilheit iſt, kann der Beiſchlaf als
körperliches Heilmittel wirken. Endlich wirkt
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*) Abhandlung über den Wahnſinn; aus dem Ita-
lieniſchen, Leipzig 1795. 300 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/191>, abgerufen am 21.11.2024.
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