sich ihm des Abends in einem schreckenden Auf- zug, von seinen Dienstleuten begleitet, die mit Ketten klirrten, liess ihm eine Suppe vorsetzen, und sagte ihm mit feurigen Augen und einer don- nernden Stimme, dass wenn er sie in der bevor- stehenden Nacht nicht würde verzehrt haben, am andern Tage die grausamsten Martern seiner war- teten. Der Kranke ass nach einem innern Kampf von mehreren Stunden, bekam Schlaf und Kräfte und genas von seinem Wahnsinn. In der Reconvalescenz gestand er die Unruhe und Angst, in welcher er diese Probenacht zugebracht hatte.
Sobald der Kranke gehorsam ist, muss jeder Zwang aufhören. Er würde nun zwecklos seyn, Widerspenstigkeit, Hass, Rachsucht und andere gehässige Leidenschaften erregen, zu welchen Wahnsinnige an sich schon geneigt sind. Man geht jetzt allmälig zu dem entgegengesetzten Be- tragen über, handelt offen und freundschaftlich, und belohnt das Wohlverhalten des Kranken durch Dinge, die ihm angenehm sind.
Ausserdem, dass man durch den erzwunge- nen Gehorsam gleichsam den Grund zur gesamm- ten Cur legt, gewinnt man durch ihn noch einen anderen bedeutenden Vortheil. Man ist jetzt nemlich in Stande, die Handlungen des Kranken in ein System von Regelmä- ssigkeit zu bringen. Er wird angehalten, zu bestimmten Zeiten zu schlafen, aufzustehen, sich zu reinigen, zu kleiden und zu arbeiten. Es
ſich ihm des Abends in einem ſchreckenden Auf- zug, von ſeinen Dienſtleuten begleitet, die mit Ketten klirrten, lieſs ihm eine Suppe vorſetzen, und ſagte ihm mit feurigen Augen und einer don- nernden Stimme, daſs wenn er ſie in der bevor- ſtehenden Nacht nicht würde verzehrt haben, am andern Tage die grauſamſten Martern ſeiner war- teten. Der Kranke aſs nach einem innern Kampf von mehreren Stunden, bekam Schlaf und Kräfte und genas von ſeinem Wahnſinn. In der Reconvaleſcenz geſtand er die Unruhe und Angſt, in welcher er dieſe Probenacht zugebracht hatte.
Sobald der Kranke gehorſam iſt, muſs jeder Zwang aufhören. Er würde nun zwecklos ſeyn, Widerſpenſtigkeit, Haſs, Rachſucht und andere gehäſſige Leidenſchaften erregen, zu welchen Wahnſinnige an ſich ſchon geneigt ſind. Man geht jetzt allmälig zu dem entgegengeſetzten Be- tragen über, handelt offen und freundſchaftlich, und belohnt das Wohlverhalten des Kranken durch Dinge, die ihm angenehm ſind.
Auſserdem, daſs man durch den erzwunge- nen Gehorſam gleichſam den Grund zur geſamm- ten Cur legt, gewinnt man durch ihn noch einen anderen bedeutenden Vortheil. Man iſt jetzt nemlich in Stande, die Handlungen des Kranken in ein Syſtem von Regelmä- ſsigkeit zu bringen. Er wird angehalten, zu beſtimmten Zeiten zu ſchlafen, aufzuſtehen, ſich zu reinigen, zu kleiden und zu arbeiten. Es
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ſich ihm des Abends in einem ſchreckenden Auf-
zug, von ſeinen Dienſtleuten begleitet, die mit
Ketten klirrten, lieſs ihm eine Suppe vorſetzen,
und ſagte ihm mit feurigen Augen und einer don-
nernden Stimme, daſs wenn er ſie in der bevor-
ſtehenden Nacht nicht würde verzehrt haben, am
andern Tage die grauſamſten Martern ſeiner war-
teten. Der Kranke aſs nach einem innern
Kampf von mehreren Stunden, bekam Schlaf und
Kräfte und genas von ſeinem Wahnſinn. In der
Reconvaleſcenz geſtand er die Unruhe und Angſt,
in welcher er dieſe Probenacht zugebracht hatte.
Sobald der Kranke gehorſam iſt, muſs jeder
Zwang aufhören. Er würde nun zwecklos ſeyn,
Widerſpenſtigkeit, Haſs, Rachſucht und andere
gehäſſige Leidenſchaften erregen, zu welchen
Wahnſinnige an ſich ſchon geneigt ſind. Man
geht jetzt allmälig zu dem entgegengeſetzten Be-
tragen über, handelt offen und freundſchaftlich,
und belohnt das Wohlverhalten des Kranken
durch Dinge, die ihm angenehm ſind.
Auſserdem, daſs man durch den erzwunge-
nen Gehorſam gleichſam den Grund zur geſamm-
ten Cur legt, gewinnt man durch ihn noch einen
anderen bedeutenden Vortheil. Man iſt jetzt
nemlich in Stande, die Handlungen des
Kranken in ein Syſtem von Regelmä-
ſsigkeit zu bringen. Er wird angehalten,
zu beſtimmten Zeiten zu ſchlafen, aufzuſtehen,
ſich zu reinigen, zu kleiden und zu arbeiten. Es
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/237>, abgerufen am 09.11.2024.
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