deren Trallianus*) gedenkt, die den Mittel- finger nicht krumm machte, weil sie glaubte, die Welt stütze sich auf denselben. Auch wechseln die Leidenschaften bey der nemlichen Idee, je nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie- der von demselben zurückgeworfen zu seyn glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh- müthig, unthätig oder angestrengt, ruhig oder wüthend seyn. Trübsinn und Traurigkeit sind also nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen- dige, sondern zufällige Merkmale der Melancho- lie. Auch muss die Kur derselben lediglich allein auf die fixe Idee gerichtet seyn, mit deren Ent- fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und Leidenschaften verschwinden, die in ihrem Ge- folge vorhanden waren. Indess, da sich in der Regel die fixen Ideen auf gehässige Gegenstände, auf unerreichbare Güter oder realisirte moralische oder physische Uebel beziehn, so sind unange- nehme Leidenschaften die gewöhnlichen Gefähr- ten derselben. Diese Kranke sehn niedergeschla- gen aus, weinen leicht, lieben die Einsamkeit an grausenden Oertern, finden nirgends Ruhe, schla- fen wenig und hassen ihre Existenz. Selbst die scheinbare Ruhe dieser Kranken ist verdächtig, entweder Verheimlichung ihrer innern Angst oder eine Pause der Erschlaffung, auf welche ein desto heftigerer Sturm erfolgt. Es entspinnt sich Miss-
*) Lib. I. c. 16.
deren Trallianus*) gedenkt, die den Mittel- finger nicht krumm machte, weil ſie glaubte, die Welt ſtütze ſich auf denſelben. Auch wechſeln die Leidenſchaften bey der nemlichen Idee, je nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie- der von demſelben zurückgeworfen zu ſeyn glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh- müthig, unthätig oder angeſtrengt, ruhig oder wüthend ſeyn. Trübſinn und Traurigkeit ſind alſo nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen- dige, ſondern zufällige Merkmale der Melancho- lie. Auch muſs die Kur derſelben lediglich allein auf die fixe Idee gerichtet ſeyn, mit deren Ent- fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und Leidenſchaften verſchwinden, die in ihrem Ge- folge vorhanden waren. Indeſs, da ſich in der Regel die fixen Ideen auf gehäſſige Gegenſtände, auf unerreichbare Güter oder realiſirte moraliſche oder phyſiſche Uebel beziehn, ſo ſind unange- nehme Leidenſchaften die gewöhnlichen Gefähr- ten derſelben. Dieſe Kranke ſehn niedergeſchla- gen aus, weinen leicht, lieben die Einſamkeit an grauſenden Oertern, finden nirgends Ruhe, ſchla- fen wenig und haſſen ihre Exiſtenz. Selbſt die ſcheinbare Ruhe dieſer Kranken iſt verdächtig, entweder Verheimlichung ihrer innern Angſt oder eine Pauſe der Erſchlaffung, auf welche ein deſto heftigerer Sturm erfolgt. Es entſpinnt ſich Miſs-
*) Lib. I. c. 16.
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deren Trallianus *) gedenkt, die den Mittel-
finger nicht krumm machte, weil ſie glaubte, die
Welt ſtütze ſich auf denſelben. Auch wechſeln
die Leidenſchaften bey der nemlichen Idee, je
nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie-
der von demſelben zurückgeworfen zu ſeyn
glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh-
müthig, unthätig oder angeſtrengt, ruhig oder
wüthend ſeyn. Trübſinn und Traurigkeit ſind
alſo nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen-
dige, ſondern zufällige Merkmale der Melancho-
lie. Auch muſs die Kur derſelben lediglich allein
auf die fixe Idee gerichtet ſeyn, mit deren Ent-
fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und
Leidenſchaften verſchwinden, die in ihrem Ge-
folge vorhanden waren. Indeſs, da ſich in der
Regel die fixen Ideen auf gehäſſige Gegenſtände,
auf unerreichbare Güter oder realiſirte moraliſche
oder phyſiſche Uebel beziehn, ſo ſind unange-
nehme Leidenſchaften die gewöhnlichen Gefähr-
ten derſelben. Dieſe Kranke ſehn niedergeſchla-
gen aus, weinen leicht, lieben die Einſamkeit an
grauſenden Oertern, finden nirgends Ruhe, ſchla-
fen wenig und haſſen ihre Exiſtenz. Selbſt die
ſcheinbare Ruhe dieſer Kranken iſt verdächtig,
entweder Verheimlichung ihrer innern Angſt oder
eine Pauſe der Erſchlaffung, auf welche ein deſto
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*) Lib. I. c. 16.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/318>, abgerufen am 22.11.2024.
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