Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

deren Trallianus *) gedenkt, die den Mittel-
finger nicht krumm machte, weil sie glaubte, die
Welt stütze sich auf denselben. Auch wechseln
die Leidenschaften bey der nemlichen Idee, je
nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie-
der von demselben zurückgeworfen zu seyn
glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh-
müthig, unthätig oder angestrengt, ruhig oder
wüthend seyn. Trübsinn und Traurigkeit sind
also nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen-
dige, sondern zufällige Merkmale der Melancho-
lie. Auch muss die Kur derselben lediglich allein
auf die fixe Idee gerichtet seyn, mit deren Ent-
fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und
Leidenschaften verschwinden, die in ihrem Ge-
folge vorhanden waren. Indess, da sich in der
Regel die fixen Ideen auf gehässige Gegenstände,
auf unerreichbare Güter oder realisirte moralische
oder physische Uebel beziehn, so sind unange-
nehme Leidenschaften die gewöhnlichen Gefähr-
ten derselben. Diese Kranke sehn niedergeschla-
gen aus, weinen leicht, lieben die Einsamkeit an
grausenden Oertern, finden nirgends Ruhe, schla-
fen wenig und hassen ihre Existenz. Selbst die
scheinbare Ruhe dieser Kranken ist verdächtig,
entweder Verheimlichung ihrer innern Angst oder
eine Pause der Erschlaffung, auf welche ein desto
heftigerer Sturm erfolgt. Es entspinnt sich Miss-

*) Lib. I. c. 16.

deren Trallianus *) gedenkt, die den Mittel-
finger nicht krumm machte, weil ſie glaubte, die
Welt ſtütze ſich auf denſelben. Auch wechſeln
die Leidenſchaften bey der nemlichen Idee, je
nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie-
der von demſelben zurückgeworfen zu ſeyn
glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh-
müthig, unthätig oder angeſtrengt, ruhig oder
wüthend ſeyn. Trübſinn und Traurigkeit ſind
alſo nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen-
dige, ſondern zufällige Merkmale der Melancho-
lie. Auch muſs die Kur derſelben lediglich allein
auf die fixe Idee gerichtet ſeyn, mit deren Ent-
fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und
Leidenſchaften verſchwinden, die in ihrem Ge-
folge vorhanden waren. Indeſs, da ſich in der
Regel die fixen Ideen auf gehäſſige Gegenſtände,
auf unerreichbare Güter oder realiſirte moraliſche
oder phyſiſche Uebel beziehn, ſo ſind unange-
nehme Leidenſchaften die gewöhnlichen Gefähr-
ten derſelben. Dieſe Kranke ſehn niedergeſchla-
gen aus, weinen leicht, lieben die Einſamkeit an
grauſenden Oertern, finden nirgends Ruhe, ſchla-
fen wenig und haſſen ihre Exiſtenz. Selbſt die
ſcheinbare Ruhe dieſer Kranken iſt verdächtig,
entweder Verheimlichung ihrer innern Angſt oder
eine Pauſe der Erſchlaffung, auf welche ein deſto
heftigerer Sturm erfolgt. Es entſpinnt ſich Miſs-

*) Lib. I. c. 16.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0318" n="313"/>
deren <hi rendition="#g">Trallianus</hi> <note place="foot" n="*)">Lib. I. c. 16.</note> gedenkt, die den Mittel-<lb/>
finger nicht krumm machte, weil &#x017F;ie glaubte, die<lb/>
Welt &#x017F;tütze &#x017F;ich auf den&#x017F;elben. Auch wech&#x017F;eln<lb/>
die Leiden&#x017F;chaften bey der nemlichen Idee, je<lb/>
nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie-<lb/>
der von dem&#x017F;elben zurückgeworfen zu &#x017F;eyn<lb/>
glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh-<lb/>
müthig, unthätig oder ange&#x017F;trengt, ruhig oder<lb/>
wüthend &#x017F;eyn. Trüb&#x017F;inn und Traurigkeit &#x017F;ind<lb/>
al&#x017F;o nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen-<lb/>
dige, &#x017F;ondern zufällige Merkmale der Melancho-<lb/>
lie. Auch mu&#x017F;s die Kur der&#x017F;elben lediglich allein<lb/>
auf die fixe Idee gerichtet &#x017F;eyn, mit deren Ent-<lb/>
fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und<lb/>
Leiden&#x017F;chaften ver&#x017F;chwinden, die in ihrem Ge-<lb/>
folge vorhanden waren. Inde&#x017F;s, da &#x017F;ich in der<lb/>
Regel die fixen Ideen auf gehä&#x017F;&#x017F;ige Gegen&#x017F;tände,<lb/>
auf unerreichbare Güter oder reali&#x017F;irte morali&#x017F;che<lb/>
oder phy&#x017F;i&#x017F;che Uebel beziehn, &#x017F;o &#x017F;ind unange-<lb/>
nehme Leiden&#x017F;chaften die gewöhnlichen Gefähr-<lb/>
ten der&#x017F;elben. Die&#x017F;e Kranke &#x017F;ehn niederge&#x017F;chla-<lb/>
gen aus, weinen leicht, lieben die Ein&#x017F;amkeit an<lb/>
grau&#x017F;enden Oertern, finden nirgends Ruhe, &#x017F;chla-<lb/>
fen wenig und ha&#x017F;&#x017F;en ihre Exi&#x017F;tenz. Selb&#x017F;t die<lb/>
&#x017F;cheinbare Ruhe die&#x017F;er Kranken i&#x017F;t verdächtig,<lb/>
entweder Verheimlichung ihrer innern Ang&#x017F;t oder<lb/>
eine Pau&#x017F;e der Er&#x017F;chlaffung, auf welche ein de&#x017F;to<lb/>
heftigerer Sturm erfolgt. Es ent&#x017F;pinnt &#x017F;ich Mi&#x017F;s-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[313/0318] deren Trallianus *) gedenkt, die den Mittel- finger nicht krumm machte, weil ſie glaubte, die Welt ſtütze ſich auf denſelben. Auch wechſeln die Leidenſchaften bey der nemlichen Idee, je nachdem der Kranke dem Ziele nahe oder wie- der von demſelben zurückgeworfen zu ſeyn glaubt. Darnach kann er bald froh, bald weh- müthig, unthätig oder angeſtrengt, ruhig oder wüthend ſeyn. Trübſinn und Traurigkeit ſind alſo nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwen- dige, ſondern zufällige Merkmale der Melancho- lie. Auch muſs die Kur derſelben lediglich allein auf die fixe Idee gerichtet ſeyn, mit deren Ent- fernung zugleich alle Neigungen, Triebe und Leidenſchaften verſchwinden, die in ihrem Ge- folge vorhanden waren. Indeſs, da ſich in der Regel die fixen Ideen auf gehäſſige Gegenſtände, auf unerreichbare Güter oder realiſirte moraliſche oder phyſiſche Uebel beziehn, ſo ſind unange- nehme Leidenſchaften die gewöhnlichen Gefähr- ten derſelben. Dieſe Kranke ſehn niedergeſchla- gen aus, weinen leicht, lieben die Einſamkeit an grauſenden Oertern, finden nirgends Ruhe, ſchla- fen wenig und haſſen ihre Exiſtenz. Selbſt die ſcheinbare Ruhe dieſer Kranken iſt verdächtig, entweder Verheimlichung ihrer innern Angſt oder eine Pauſe der Erſchlaffung, auf welche ein deſto heftigerer Sturm erfolgt. Es entſpinnt ſich Miſs- *) Lib. I. c. 16.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/318
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/318>, abgerufen am 22.11.2024.