Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft, die von Natur misstrauisch, verschlossen
und zu Grübeleien geneigt sind, voller Vorur-
theile stecken, an Verstandes-Schwäche leiden
und daher den wahren Werth der Dinge zu schä-
tzen nicht im Stande sind. Sie glauben leicht
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-
sche in Verbindung stehn. Treffen vollends noch
mit diesen inneren Zuständen äussere Verhält-
nisse z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einsamkeit,
einförmige Arbeit, Klosterleben u. s. w. zusam-
men, die die Phantasie wenig beschäfftigen, so
entsteht der fixe Wahn um desto leichter. Dann
hat der Mensch einen natürlichen Hang, sich in
einem geträumten Zustand zu denken und in Be-
ziehung auf denselben das Bewusstseyn seiner
wahren Verhältnisse zu verleugnen. Das Kind
spielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,
Dichter und Schauspieler, ja es macht uns selbst
in den späteren Jahren des Lebens noch glück-
lich, uns eine Welt in der Phantasie zu schaffen,
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der
wirklichen spielen. Allein unsere Besonnenheit
weist uns bald in unsere natürlichen Verhältnisse
zurück. Wenn hingegen dieselbe durch Schwä-
che des Verstandes, durch eine hervorstechende
Stärke der Phantasie, durch eine geschäfftslose
Einsamkeit, einseitige Anstrengungen der Seele
u. s. w. geschwächt wird; so kann dieser Hang
zur Träumerey ein Keim des Wahnsinns werden

ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen
und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur-
theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden
und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä-
tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-
ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch
mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält-
niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit,
einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam-
men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo
entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann
hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in
einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be-
ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner
wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind
ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,
Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt
in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück-
lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen,
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der
wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit
weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe
zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä-
che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende
Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe
Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele
u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang
zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0327" n="322"/>
&#x017F;chaft, die von Natur mi&#x017F;straui&#x017F;ch, ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und zu Grübeleien geneigt &#x017F;ind, voller Vorur-<lb/>
theile &#x017F;tecken, an Ver&#x017F;tandes-Schwäche leiden<lb/>
und daher den wahren Werth der Dinge zu &#x017F;chä-<lb/>
tzen nicht im Stande &#x017F;ind. Sie glauben leicht<lb/>
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-<lb/>
&#x017F;che in Verbindung &#x017F;tehn. Treffen vollends noch<lb/>
mit die&#x017F;en inneren Zu&#x017F;tänden äu&#x017F;sere Verhält-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e z. B. Aufenhalt an öden Orten, Ein&#x017F;amkeit,<lb/>
einförmige Arbeit, Klo&#x017F;terleben u. &#x017F;. w. zu&#x017F;am-<lb/>
men, die die Phanta&#x017F;ie wenig be&#x017F;chäfftigen, &#x017F;o<lb/>
ent&#x017F;teht der fixe Wahn um de&#x017F;to leichter. Dann<lb/>
hat der Men&#x017F;ch einen natürlichen Hang, &#x017F;ich in<lb/>
einem geträumten Zu&#x017F;tand zu denken und in Be-<lb/>
ziehung auf den&#x017F;elben das Bewu&#x017F;st&#x017F;eyn &#x017F;einer<lb/>
wahren Verhältni&#x017F;&#x017F;e zu verleugnen. Das Kind<lb/>
&#x017F;pielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;<lb/>
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,<lb/>
Dichter und Schau&#x017F;pieler, ja es macht uns &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
in den &#x017F;päteren Jahren des Lebens noch glück-<lb/>
lich, uns eine Welt in der Phanta&#x017F;ie zu &#x017F;chaffen,<lb/>
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der<lb/>
wirklichen &#x017F;pielen. Allein un&#x017F;ere Be&#x017F;onnenheit<lb/>
wei&#x017F;t uns bald in un&#x017F;ere natürlichen Verhältni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
zurück. Wenn hingegen die&#x017F;elbe durch Schwä-<lb/>
che des Ver&#x017F;tandes, durch eine hervor&#x017F;techende<lb/>
Stärke der Phanta&#x017F;ie, durch eine ge&#x017F;chäfftslo&#x017F;e<lb/>
Ein&#x017F;amkeit, ein&#x017F;eitige An&#x017F;trengungen der Seele<lb/>
u. &#x017F;. w. ge&#x017F;chwächt wird; &#x017F;o kann die&#x017F;er Hang<lb/>
zur Träumerey ein Keim des Wahn&#x017F;inns werden<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0327] ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur- theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä- tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün- ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält- niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit, einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam- men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be- ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König; wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler, Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück- lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen, in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä- che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/327
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/327>, abgerufen am 27.07.2024.