lüstlinge bestechen die Gunst unerfahrner Mäd- chen durch Geld oder vorgespiegelte Liebe, und überlassen sie nachher ihrem Schicksale. Die verführte Person härmt sich über den Betrug, oder verfolgt die geöffnete Bahn, weil sie nichts weiter an sich verderben kann. Sie stirbt im Spital, oder wird eine Bewohnerin des Tollhauses. Beide Arten, das Leben zu enden, sind gleich schauder- haft. Ein direkter Mord ist nicht so quaalvoll, als ein indirekter durch Wahnsinn oder Lustseu- che und Knochenfrass. Und wie häufig ist we- nigstens der letzte Fall! Ich kenne mittelmässige Städte, die auf diese Art nach einem höchst wahr- scheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig Menschen verlieren. Sicher würden wir vor ei- nem Ort zurückbeben, an welchem sich so viele Meuchelmorde ereigneten! Freilich sollte man es der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf Glück, Ehre, Gesundheit und Leben zu ahnden, denen der Mensch durch die Freiheit seines Wil- lens ausweichen kann. Allein die Menschen, von denen hier die Rede ist, kommen meistens nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur hat ihnen in Betreff der Liebe eine so schwache Seite gelassen, dass sie einer Staats-Pallisade be- dürfen.
Nahe verwandt mit der Liebe ist die Eifer- sucht, bey welcher Liebe und Hass, Achtung und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit einander in Kampf gerathen sind. Der Verstand
lüſtlinge beſtechen die Gunſt unerfahrner Mäd- chen durch Geld oder vorgeſpiegelte Liebe, und überlaſſen ſie nachher ihrem Schickſale. Die verführte Perſon härmt ſich über den Betrug, oder verfolgt die geöffnete Bahn, weil ſie nichts weiter an ſich verderben kann. Sie ſtirbt im Spital, oder wird eine Bewohnerin des Tollhauſes. Beide Arten, das Leben zu enden, ſind gleich ſchauder- haft. Ein direkter Mord iſt nicht ſo quaalvoll, als ein indirekter durch Wahnſinn oder Luſtſeu- che und Knochenfraſs. Und wie häufig iſt we- nigſtens der letzte Fall! Ich kenne mittelmäſsige Städte, die auf dieſe Art nach einem höchſt wahr- ſcheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig Menſchen verlieren. Sicher würden wir vor ei- nem Ort zurückbeben, an welchem ſich ſo viele Meuchelmorde ereigneten! Freilich ſollte man es der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf Glück, Ehre, Geſundheit und Leben zu ahnden, denen der Menſch durch die Freiheit ſeines Wil- lens ausweichen kann. Allein die Menſchen, von denen hier die Rede iſt, kommen meiſtens nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur hat ihnen in Betreff der Liebe eine ſo ſchwache Seite gelaſſen, daſs ſie einer Staats-Palliſade be- dürfen.
Nahe verwandt mit der Liebe iſt die Eifer- ſucht, bey welcher Liebe und Haſs, Achtung und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit einander in Kampf gerathen ſind. Der Verſtand
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lüſtlinge beſtechen die Gunſt unerfahrner Mäd-
chen durch Geld oder vorgeſpiegelte Liebe, und
überlaſſen ſie nachher ihrem Schickſale. Die
verführte Perſon härmt ſich über den Betrug, oder
verfolgt die geöffnete Bahn, weil ſie nichts weiter
an ſich verderben kann. Sie ſtirbt im Spital, oder
wird eine Bewohnerin des Tollhauſes. Beide
Arten, das Leben zu enden, ſind gleich ſchauder-
haft. Ein direkter Mord iſt nicht ſo quaalvoll,
als ein indirekter durch Wahnſinn oder Luſtſeu-
che und Knochenfraſs. Und wie häufig iſt we-
nigſtens der letzte Fall! Ich kenne mittelmäſsige
Städte, die auf dieſe Art nach einem höchſt wahr-
ſcheinlichen Calcul jährlich mehr als funfzig
Menſchen verlieren. Sicher würden wir vor ei-
nem Ort zurückbeben, an welchem ſich ſo viele
Meuchelmorde ereigneten! Freilich ſollte man es
der Gerechtigkeit nicht zumuthen, Angriffe auf
Glück, Ehre, Geſundheit und Leben zu ahnden,
denen der Menſch durch die Freiheit ſeines Wil-
lens ausweichen kann. Allein die Menſchen,
von denen hier die Rede iſt, kommen meiſtens
nie aus der Unmündigkeit heraus, und die Natur
hat ihnen in Betreff der Liebe eine ſo ſchwache
Seite gelaſſen, daſs ſie einer Staats-Palliſade be-
dürfen.
Nahe verwandt mit der Liebe iſt die Eifer-
ſucht, bey welcher Liebe und Haſs, Achtung
und Verachtung, Rache und gekränkte Ehre mit
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/355>, abgerufen am 23.11.2024.
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