und handelt wie ein Kind und entschliesst sich nie freiwillig zur Cur einer Krankheit, von deren Daseyn er, als Verrückter, sich schlechterdings nicht überzeugen lässt. Da es ihm also an inneren Bestimmungsgründen fehlt, so müssen wir ihn von aussenher nöthigen, auf sich wirken zu lassen. Nun setzt aber dieser Zwang theils ein besonderes, fast individuelles Studium der Erfahrungs-Seelen- kunde dieser eigenartigen Geschöpfe voraus, theils beengt er mehr oder weniger die extensive und in- tensive Wirksamkeit der psychischen Curmethode.
Dann hat noch die Krankheit selbst keine Stä- tigkeit. Sie wechselt unaufhörlich, steigt, fällt, ändert ihre Form. In den nemlichen Verhält- nissen müssen auch die Seelenkräfte gewechselt haben. Die moralischen und intellectuellen Be- stimmungen des Kranken ändern sich wie die Pe- rioden seiner Krankheit. Der Narr ist im Anfall ein anderes, und ein anderes Wesen im Nachlass. Während des Paroxismus wird der Furchtsame kühn, der Dummkopf beredt, das sanfte Weib eine wüthende Megäre. Der Rasende warnt sei- ne Freunde vor einem Unglück, das er ihnen selbst zubereitet; er sorgt als Freund oder Vater im Nachlass für die, die er im kommenden An- fall zerfleischt. Verrückte hassten ihre Kinder, drohten ihre Eltern mit Schlägen in den Anfäl- len, die sie ausser denselben zärtlich liebten *).
*)Pinel Abhandlung über Geistesverirrungen, übersetzt von M. Wagner, Wien 1801. S. 20.
und handelt wie ein Kind und entſchlieſst ſich nie freiwillig zur Cur einer Krankheit, von deren Daſeyn er, als Verrückter, ſich ſchlechterdings nicht überzeugen läſst. Da es ihm alſo an inneren Beſtimmungsgründen fehlt, ſo müſſen wir ihn von auſsenher nöthigen, auf ſich wirken zu laſſen. Nun ſetzt aber dieſer Zwang theils ein beſonderes, faſt individuelles Studium der Erfahrungs-Seelen- kunde dieſer eigenartigen Geſchöpfe voraus, theils beengt er mehr oder weniger die extenſive und in- tenſive Wirkſamkeit der pſychiſchen Curmethode.
Dann hat noch die Krankheit ſelbſt keine Stä- tigkeit. Sie wechſelt unaufhörlich, ſteigt, fällt, ändert ihre Form. In den nemlichen Verhält- niſſen müſſen auch die Seelenkräfte gewechſelt haben. Die moraliſchen und intellectuellen Be- ſtimmungen des Kranken ändern ſich wie die Pe- rioden ſeiner Krankheit. Der Narr iſt im Anfall ein anderes, und ein anderes Weſen im Nachlaſs. Während des Paroxismus wird der Furchtſame kühn, der Dummkopf beredt, das ſanfte Weib eine wüthende Megäre. Der Raſende warnt ſei- ne Freunde vor einem Unglück, das er ihnen ſelbſt zubereitet; er ſorgt als Freund oder Vater im Nachlaſs für die, die er im kommenden An- fall zerfleiſcht. Verrückte haſsten ihre Kinder, drohten ihre Eltern mit Schlägen in den Anfäl- len, die ſie auſser denſelben zärtlich liebten *).
*)Pinel Abhandlung über Geiſtesverirrungen, überſetzt von M. Wagner, Wien 1801. S. 20.
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und handelt wie ein Kind und entſchlieſst ſich nie
freiwillig zur Cur einer Krankheit, von deren
Daſeyn er, als Verrückter, ſich ſchlechterdings
nicht überzeugen läſst. Da es ihm alſo an inneren
Beſtimmungsgründen fehlt, ſo müſſen wir ihn von
auſsenher nöthigen, auf ſich wirken zu laſſen.
Nun ſetzt aber dieſer Zwang theils ein beſonderes,
faſt individuelles Studium der Erfahrungs-Seelen-
kunde dieſer eigenartigen Geſchöpfe voraus, theils
beengt er mehr oder weniger die extenſive und in-
tenſive Wirkſamkeit der pſychiſchen Curmethode.
Dann hat noch die Krankheit ſelbſt keine Stä-
tigkeit. Sie wechſelt unaufhörlich, ſteigt, fällt,
ändert ihre Form. In den nemlichen Verhält-
niſſen müſſen auch die Seelenkräfte gewechſelt
haben. Die moraliſchen und intellectuellen Be-
ſtimmungen des Kranken ändern ſich wie die Pe-
rioden ſeiner Krankheit. Der Narr iſt im Anfall
ein anderes, und ein anderes Weſen im Nachlaſs.
Während des Paroxismus wird der Furchtſame
kühn, der Dummkopf beredt, das ſanfte Weib
eine wüthende Megäre. Der Raſende warnt ſei-
ne Freunde vor einem Unglück, das er ihnen
ſelbſt zubereitet; er ſorgt als Freund oder Vater
im Nachlaſs für die, die er im kommenden An-
fall zerfleiſcht. Verrückte haſsten ihre Kinder,
drohten ihre Eltern mit Schlägen in den Anfäl-
len, die ſie auſser denſelben zärtlich liebten *).
*) Pinel Abhandlung über Geiſtesverirrungen,
überſetzt von M. Wagner, Wien 1801. S. 20.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/39>, abgerufen am 03.12.2024.
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