wöhnlichen Menschen Schwindel erregte, eine der verheerendsten Seuchen von dem Erdball zu vertilgen. Und wirklich scheint es, dass es dem Hafen nahe sey, einzulaufen. Ueber sie alle schwebt, gleich dem Adler, eine sublime Gruppe speculativer Naturphilosophen, die ihre irdische Beute in dem reinsten Aether assimilirt und als schöne Poesien wieder giebt. Möchte doch jeder unter uns glauben und lehren ohne Partheisucht, die Wahrheit auf seiner Strasse verfolgen, aber nicht ungerecht seyn gegen das benachbarte Ver- dienst, und es nicht vergessen, dass an dem gro- ssen Tempel für Menschenglück und Menschen- wohl Hände aller Art arbeiten müssen.
Ich will einige Naturalismen über das Be- wusstseyn, die Besonnenheit und Auf- merksamkeit, dies Triumvirat nahe ver- wandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich sichtbar, und auf welche daher auch die Mittel zur Heilung hauptsächlich gerichtet werden müssen.
§. 9.
Ich fange mit dem Selbstbewusstseyn, diesem in der Anschauung einfachen, aber in der Zergliederung höchst verwickelten Produkt un- serer Seelenkräfte an, das gleichsam die Grund- veste unserer ganzen moralischen Existenz aus- macht. Denn was wären wir ohne dasselbe? Ein leeres Gleichniss des Spiegels einer See, die
wöhnlichen Menſchen Schwindel erregte, eine der verheerendſten Seuchen von dem Erdball zu vertilgen. Und wirklich ſcheint es, daſs es dem Hafen nahe ſey, einzulaufen. Ueber ſie alle ſchwebt, gleich dem Adler, eine ſublime Gruppe ſpeculativer Naturphiloſophen, die ihre irdiſche Beute in dem reinſten Aether aſſimilirt und als ſchöne Poeſien wieder giebt. Möchte doch jeder unter uns glauben und lehren ohne Partheiſucht, die Wahrheit auf ſeiner Straſse verfolgen, aber nicht ungerecht ſeyn gegen das benachbarte Ver- dienſt, und es nicht vergeſſen, daſs an dem gro- ſsen Tempel für Menſchenglück und Menſchen- wohl Hände aller Art arbeiten müſſen.
Ich will einige Naturalismen über das Be- wuſstſeyn, die Beſonnenheit und Auf- merkſamkeit, dies Triumvirat nahe ver- wandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich ſichtbar, und auf welche daher auch die Mittel zur Heilung hauptſächlich gerichtet werden müſſen.
§. 9.
Ich fange mit dem Selbſtbewuſstſeyn, dieſem in der Anſchauung einfachen, aber in der Zergliederung höchſt verwickelten Produkt un- ſerer Seelenkräfte an, das gleichſam die Grund- veſte unſerer ganzen moraliſchen Exiſtenz aus- macht. Denn was wären wir ohne daſſelbe? Ein leeres Gleichniſs des Spiegels einer See, die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0058"n="53"/>
wöhnlichen Menſchen Schwindel erregte, eine<lb/>
der verheerendſten Seuchen von dem Erdball zu<lb/>
vertilgen. Und wirklich ſcheint es, daſs es dem<lb/>
Hafen nahe ſey, einzulaufen. Ueber ſie alle<lb/>ſchwebt, gleich dem Adler, eine ſublime Gruppe<lb/>ſpeculativer Naturphiloſophen, die ihre irdiſche<lb/>
Beute in dem reinſten Aether aſſimilirt und als<lb/>ſchöne Poeſien wieder giebt. Möchte doch jeder<lb/>
unter uns glauben und lehren ohne Partheiſucht,<lb/>
die Wahrheit auf ſeiner Straſse verfolgen, aber<lb/>
nicht ungerecht ſeyn gegen das benachbarte Ver-<lb/>
dienſt, und es nicht vergeſſen, daſs an dem gro-<lb/>ſsen Tempel für Menſchenglück und Menſchen-<lb/>
wohl Hände aller Art arbeiten müſſen.</p><lb/><p>Ich will einige Naturalismen über das <hirendition="#g">Be-<lb/>
wuſstſeyn</hi>, die <hirendition="#g">Beſonnenheit</hi> und <hirendition="#g">Auf-<lb/>
merkſamkeit</hi>, dies Triumvirat nahe ver-<lb/>
wandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen<lb/>
ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich ſichtbar, und<lb/>
auf welche daher auch die Mittel zur Heilung<lb/>
hauptſächlich gerichtet werden müſſen.</p></div><lb/><divn="2"><head>§. 9.</head><lb/><p>Ich fange mit dem <hirendition="#g">Selbſtbewuſstſeyn</hi>,<lb/>
dieſem in der Anſchauung einfachen, aber in der<lb/>
Zergliederung höchſt verwickelten Produkt un-<lb/>ſerer Seelenkräfte an, das gleichſam die Grund-<lb/>
veſte unſerer ganzen moraliſchen Exiſtenz aus-<lb/>
macht. Denn was wären wir ohne daſſelbe?<lb/>
Ein leeres Gleichniſs des Spiegels einer See, die<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[53/0058]
wöhnlichen Menſchen Schwindel erregte, eine
der verheerendſten Seuchen von dem Erdball zu
vertilgen. Und wirklich ſcheint es, daſs es dem
Hafen nahe ſey, einzulaufen. Ueber ſie alle
ſchwebt, gleich dem Adler, eine ſublime Gruppe
ſpeculativer Naturphiloſophen, die ihre irdiſche
Beute in dem reinſten Aether aſſimilirt und als
ſchöne Poeſien wieder giebt. Möchte doch jeder
unter uns glauben und lehren ohne Partheiſucht,
die Wahrheit auf ſeiner Straſse verfolgen, aber
nicht ungerecht ſeyn gegen das benachbarte Ver-
dienſt, und es nicht vergeſſen, daſs an dem gro-
ſsen Tempel für Menſchenglück und Menſchen-
wohl Hände aller Art arbeiten müſſen.
Ich will einige Naturalismen über das Be-
wuſstſeyn, die Beſonnenheit und Auf-
merkſamkeit, dies Triumvirat nahe ver-
wandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen
ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich ſichtbar, und
auf welche daher auch die Mittel zur Heilung
hauptſächlich gerichtet werden müſſen.
§. 9.
Ich fange mit dem Selbſtbewuſstſeyn,
dieſem in der Anſchauung einfachen, aber in der
Zergliederung höchſt verwickelten Produkt un-
ſerer Seelenkräfte an, das gleichſam die Grund-
veſte unſerer ganzen moraliſchen Exiſtenz aus-
macht. Denn was wären wir ohne daſſelbe?
Ein leeres Gleichniſs des Spiegels einer See, die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/58>, abgerufen am 11.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.