Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

immer dieselbe Person bleiben, da uns doch von
der Erfahrung die handgreiflichsten Beweise des
Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum-
lichen der Organisation ist die nemliche Aufgabe
gegeben. Wir glauben von unserer Geburt an bis
zu unserem natürlichen Lebensziel immer in dem
nemlichen Körper zu bleiben. So wie unsere
Person uns selbst nicht unbekannt wird, so wird
auch unser Körper keinem in der Familie unbe-
kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln
mit dem Jüngling, und dieser mit dem Greise kei-
ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geschah
aber immer an den nemlichen Stock und die
Vegetation schritt in so unmerklichen Graden
zur Entwickelung und Zerstörung fort, dass
wir den ganzen Prozess nicht gewahr geworden
sind. Wahrscheinlich würde daher auch das Be-
wusstseyn der Succession unserer Existenz einen
Stoss erleiden, wenn die Catastrophen stark seyn,
Knaben mit einem Schritt ins Greisenalter hin-
überhüpfen könnten. Der Organismus wechselt
den Stoff, transitorisch und fortschrei-
tend
, er zerstört ununterbrochen und schafft
wieder, was er zerstört hat. Er nähert seine
neuen Schöpfungen dem ursprünglichen Typus
soweit wieder an, dass das Individuum fortdauert
und immerhin zu den nemlichen Veränderungen
fähig bleibt. Allein er nähert sie nur dem an,
was er zerstört hat; erreicht dasselbe aber
nicht vollkommen wieder
. Daher der

immer dieſelbe Perſon bleiben, da uns doch von
der Erfahrung die handgreiflichſten Beweiſe des
Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum-
lichen der Organiſation iſt die nemliche Aufgabe
gegeben. Wir glauben von unſerer Geburt an bis
zu unſerem natürlichen Lebensziel immer in dem
nemlichen Körper zu bleiben. So wie unſere
Perſon uns ſelbſt nicht unbekannt wird, ſo wird
auch unſer Körper keinem in der Familie unbe-
kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln
mit dem Jüngling, und dieſer mit dem Greiſe kei-
ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geſchah
aber immer an den nemlichen Stock und die
Vegetation ſchritt in ſo unmerklichen Graden
zur Entwickelung und Zerſtörung fort, daſs
wir den ganzen Prozeſs nicht gewahr geworden
ſind. Wahrſcheinlich würde daher auch das Be-
wuſstſeyn der Succeſſion unſerer Exiſtenz einen
Stoſs erleiden, wenn die Cataſtrophen ſtark ſeyn,
Knaben mit einem Schritt ins Greiſenalter hin-
überhüpfen könnten. Der Organismus wechſelt
den Stoff, tranſitoriſch und fortſchrei-
tend
, er zerſtört ununterbrochen und ſchafft
wieder, was er zerſtört hat. Er nähert ſeine
neuen Schöpfungen dem urſprünglichen Typus
ſoweit wieder an, daſs das Individuum fortdauert
und immerhin zu den nemlichen Veränderungen
fähig bleibt. Allein er nähert ſie nur dem an,
was er zerſtört hat; erreicht daſſelbe aber
nicht vollkommen wieder
. Daher der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0065" n="60"/>
immer die&#x017F;elbe Per&#x017F;on bleiben, da uns doch von<lb/>
der Erfahrung die handgreiflich&#x017F;ten Bewei&#x017F;e des<lb/>
Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum-<lb/>
lichen der Organi&#x017F;ation i&#x017F;t die nemliche Aufgabe<lb/>
gegeben. Wir glauben von un&#x017F;erer Geburt an bis<lb/>
zu un&#x017F;erem natürlichen Lebensziel immer in dem<lb/>
nemlichen Körper zu bleiben. So wie un&#x017F;ere<lb/>
Per&#x017F;on uns &#x017F;elb&#x017F;t nicht unbekannt wird, &#x017F;o wird<lb/>
auch un&#x017F;er Körper keinem in der Familie unbe-<lb/>
kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln<lb/>
mit dem Jüngling, und die&#x017F;er mit dem Grei&#x017F;e kei-<lb/>
ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug ge&#x017F;chah<lb/>
aber immer an den nemlichen Stock und die<lb/>
Vegetation &#x017F;chritt in &#x017F;o unmerklichen Graden<lb/>
zur Entwickelung und Zer&#x017F;törung fort, da&#x017F;s<lb/>
wir den ganzen Proze&#x017F;s nicht gewahr geworden<lb/>
&#x017F;ind. Wahr&#x017F;cheinlich würde daher auch das Be-<lb/>
wu&#x017F;st&#x017F;eyn der Succe&#x017F;&#x017F;ion un&#x017F;erer Exi&#x017F;tenz einen<lb/>
Sto&#x017F;s erleiden, wenn die Cata&#x017F;trophen &#x017F;tark &#x017F;eyn,<lb/>
Knaben mit einem Schritt ins Grei&#x017F;enalter hin-<lb/>
überhüpfen könnten. Der Organismus wech&#x017F;elt<lb/>
den Stoff, <hi rendition="#g">tran&#x017F;itori&#x017F;ch</hi> und <hi rendition="#g">fort&#x017F;chrei-<lb/>
tend</hi>, er zer&#x017F;tört ununterbrochen und &#x017F;chafft<lb/>
wieder, was er zer&#x017F;tört hat. Er nähert &#x017F;eine<lb/>
neuen Schöpfungen dem ur&#x017F;prünglichen Typus<lb/>
&#x017F;oweit wieder an, da&#x017F;s das Individuum fortdauert<lb/>
und immerhin zu den nemlichen Veränderungen<lb/>
fähig bleibt. Allein er <hi rendition="#g">nähert</hi> &#x017F;ie nur dem an,<lb/>
was er zer&#x017F;tört hat; <hi rendition="#g">erreicht da&#x017F;&#x017F;elbe aber<lb/>
nicht vollkommen wieder</hi>. Daher der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0065] immer dieſelbe Perſon bleiben, da uns doch von der Erfahrung die handgreiflichſten Beweiſe des Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räum- lichen der Organiſation iſt die nemliche Aufgabe gegeben. Wir glauben von unſerer Geburt an bis zu unſerem natürlichen Lebensziel immer in dem nemlichen Körper zu bleiben. So wie unſere Perſon uns ſelbſt nicht unbekannt wird, ſo wird auch unſer Körper keinem in der Familie unbe- kannt. Und doch hat das Kind in den Windeln mit dem Jüngling, und dieſer mit dem Greiſe kei- ne Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geſchah aber immer an den nemlichen Stock und die Vegetation ſchritt in ſo unmerklichen Graden zur Entwickelung und Zerſtörung fort, daſs wir den ganzen Prozeſs nicht gewahr geworden ſind. Wahrſcheinlich würde daher auch das Be- wuſstſeyn der Succeſſion unſerer Exiſtenz einen Stoſs erleiden, wenn die Cataſtrophen ſtark ſeyn, Knaben mit einem Schritt ins Greiſenalter hin- überhüpfen könnten. Der Organismus wechſelt den Stoff, tranſitoriſch und fortſchrei- tend, er zerſtört ununterbrochen und ſchafft wieder, was er zerſtört hat. Er nähert ſeine neuen Schöpfungen dem urſprünglichen Typus ſoweit wieder an, daſs das Individuum fortdauert und immerhin zu den nemlichen Veränderungen fähig bleibt. Allein er nähert ſie nur dem an, was er zerſtört hat; erreicht daſſelbe aber nicht vollkommen wieder. Daher der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/65
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/65>, abgerufen am 15.05.2024.