Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

seine Rede nicht in dem Moment, wo sie gedacht,
sondern erst wo sie gesprochen wird. Seine Per-
sönlichkeit ist gleichsam verdoppelt, mit der einen
redet er, mit der andern horcht er der Rede zu.
Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei-
ner Ohnmacht, unterscheiden wir die Subjekti-
vität und Objektivität nicht scharf und schnell
mehr, sondern werden von ihnen so schwach
afficirt, dass wir an beiden zweifeln und uns
immer fragen müssen, ob wir träumen oder Rea-
litäten wahrnehmen, ob wir es sind, die em-
pfinden und handeln, oder blosse Zuschauer des
Empfindens und Handelns eines andern sind.
Wir hören den Laut unserer Sprache, sind aber
ungewiss, ob dies wirklich unsere oder eines an-
deren Sprache sey. Wir fassen bloss die Bilder,
die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den
Sinn der Schrift und der Rede fassen wir nicht
mehr. Die Seele schwebt gleichsam in einem
Nebel, in welchen sie theils sich selbst nicht fin-
den kann, theils die Gegenstände wie aus weiter
Ferne wahrnimmt. Als der selige Oberbergrath
Goldhagen aus einem Anfall seiner letzten
Krankheit, in welchem er abwechselnd an Schlaf-
sucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen
erwachte, und mehrere Personen seiner Familie
um sein Bette sassen, trat auch sein einziges Kind,
das er sehr liebte, herein, ihm einen guten Mor-
gen zu wünschen und sich nach seinem Befinden
zu erkundigen. Ey, sagte er, liebes Kind! in-

ſeine Rede nicht in dem Moment, wo ſie gedacht,
ſondern erſt wo ſie geſprochen wird. Seine Per-
ſönlichkeit iſt gleichſam verdoppelt, mit der einen
redet er, mit der andern horcht er der Rede zu.
Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei-
ner Ohnmacht, unterſcheiden wir die Subjekti-
vität und Objektivität nicht ſcharf und ſchnell
mehr, ſondern werden von ihnen ſo ſchwach
afficirt, daſs wir an beiden zweifeln und uns
immer fragen müſſen, ob wir träumen oder Rea-
litäten wahrnehmen, ob wir es ſind, die em-
pfinden und handeln, oder bloſse Zuſchauer des
Empfindens und Handelns eines andern ſind.
Wir hören den Laut unſerer Sprache, ſind aber
ungewiſs, ob dies wirklich unſere oder eines an-
deren Sprache ſey. Wir faſſen bloſs die Bilder,
die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den
Sinn der Schrift und der Rede faſſen wir nicht
mehr. Die Seele ſchwebt gleichſam in einem
Nebel, in welchen ſie theils ſich ſelbſt nicht fin-
den kann, theils die Gegenſtände wie aus weiter
Ferne wahrnimmt. Als der ſelige Oberbergrath
Goldhagen aus einem Anfall ſeiner letzten
Krankheit, in welchem er abwechſelnd an Schlaf-
ſucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen
erwachte, und mehrere Perſonen ſeiner Familie
um ſein Bette ſaſsen, trat auch ſein einziges Kind,
das er ſehr liebte, herein, ihm einen guten Mor-
gen zu wünſchen und ſich nach ſeinem Befinden
zu erkundigen. Ey, ſagte er, liebes Kind! in-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="69"/>
&#x017F;eine Rede nicht in dem Moment, wo &#x017F;ie gedacht,<lb/>
&#x017F;ondern er&#x017F;t wo &#x017F;ie ge&#x017F;prochen wird. Seine Per-<lb/>
&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t gleich&#x017F;am verdoppelt, mit der einen<lb/>
redet er, mit der andern horcht er der Rede zu.<lb/>
Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei-<lb/>
ner Ohnmacht, unter&#x017F;cheiden wir die Subjekti-<lb/>
vität und Objektivität nicht &#x017F;charf und &#x017F;chnell<lb/>
mehr, &#x017F;ondern werden von ihnen &#x017F;o &#x017F;chwach<lb/>
afficirt, da&#x017F;s wir an beiden zweifeln und uns<lb/>
immer fragen mü&#x017F;&#x017F;en, ob wir träumen oder Rea-<lb/>
litäten wahrnehmen, ob wir es &#x017F;ind, die em-<lb/>
pfinden und handeln, oder blo&#x017F;se Zu&#x017F;chauer des<lb/>
Empfindens und Handelns eines andern &#x017F;ind.<lb/>
Wir hören den Laut un&#x017F;erer Sprache, &#x017F;ind aber<lb/>
ungewi&#x017F;s, ob dies wirklich un&#x017F;ere oder eines an-<lb/>
deren Sprache &#x017F;ey. Wir fa&#x017F;&#x017F;en blo&#x017F;s die Bilder,<lb/>
die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den<lb/>
Sinn der Schrift und der Rede fa&#x017F;&#x017F;en wir nicht<lb/>
mehr. Die Seele &#x017F;chwebt gleich&#x017F;am in einem<lb/>
Nebel, in welchen &#x017F;ie theils &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht fin-<lb/>
den kann, theils die Gegen&#x017F;tände wie aus weiter<lb/>
Ferne wahrnimmt. Als der &#x017F;elige Oberbergrath<lb/><hi rendition="#g">Goldhagen</hi> aus einem Anfall &#x017F;einer letzten<lb/>
Krankheit, in welchem er abwech&#x017F;elnd an Schlaf-<lb/>
&#x017F;ucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen<lb/>
erwachte, und mehrere Per&#x017F;onen &#x017F;einer Familie<lb/>
um &#x017F;ein Bette &#x017F;a&#x017F;sen, trat auch &#x017F;ein einziges Kind,<lb/>
das er &#x017F;ehr liebte, herein, ihm einen guten Mor-<lb/>
gen zu wün&#x017F;chen und &#x017F;ich nach &#x017F;einem Befinden<lb/>
zu erkundigen. Ey, &#x017F;agte er, liebes Kind! in-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0074] ſeine Rede nicht in dem Moment, wo ſie gedacht, ſondern erſt wo ſie geſprochen wird. Seine Per- ſönlichkeit iſt gleichſam verdoppelt, mit der einen redet er, mit der andern horcht er der Rede zu. Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor ei- ner Ohnmacht, unterſcheiden wir die Subjekti- vität und Objektivität nicht ſcharf und ſchnell mehr, ſondern werden von ihnen ſo ſchwach afficirt, daſs wir an beiden zweifeln und uns immer fragen müſſen, ob wir träumen oder Rea- litäten wahrnehmen, ob wir es ſind, die em- pfinden und handeln, oder bloſse Zuſchauer des Empfindens und Handelns eines andern ſind. Wir hören den Laut unſerer Sprache, ſind aber ungewiſs, ob dies wirklich unſere oder eines an- deren Sprache ſey. Wir faſſen bloſs die Bilder, die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den Sinn der Schrift und der Rede faſſen wir nicht mehr. Die Seele ſchwebt gleichſam in einem Nebel, in welchen ſie theils ſich ſelbſt nicht fin- den kann, theils die Gegenſtände wie aus weiter Ferne wahrnimmt. Als der ſelige Oberbergrath Goldhagen aus einem Anfall ſeiner letzten Krankheit, in welchem er abwechſelnd an Schlaf- ſucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen erwachte, und mehrere Perſonen ſeiner Familie um ſein Bette ſaſsen, trat auch ſein einziges Kind, das er ſehr liebte, herein, ihm einen guten Mor- gen zu wünſchen und ſich nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Ey, ſagte er, liebes Kind! in-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/74
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/74>, abgerufen am 16.05.2024.