das Organ schläft nie, das ein ganzes Säkulum wirkt, ohne auch nur eine Stunde lang auszu- ruhn.
Wahrscheinlich schläft bloss das Nervensy- stem und die übrige Organisation nur in so weit, als sie von demselben abhängig ist. Daher hö- ren alle Geschäffte, die allein und unmittel- bar von den Nerven abhängen, Bewusstseyn, Wirkung des äusseren und inneren Sinnes und willkührliche Bewegung im Schlaf auf. Im Ein- schlafen sieht das Auge und das Ohr hört nicht mehr, die Seele fühlt sich, als wäre sie ohne Kör- per. Dann wird auch der innere Sinn geschwächt, die Bilder der Phantasie schwimmen ohne Hal- tung durch einander, bis auch sie verlöscht und mit dieser Catastrophe der vollkommne Schlaf be- gonnen ist.
Doch schlafen nicht alle Theile des Nerven- systems zugleich sondern nach und nach ein, und erwachen eben so wieder. Auch schlafen sie nicht alle gleich tief *). Die zu Tage ausgehen- den Nervenäste, denen die Sinnorgane auf der Grenze des Mikrokosmus angehängt sind, schei- nen tiefer und vollkommner einzuschlafen, als die im Inneren der Organisation sich endenden Nerven, die zum Organ des Gemeingefühls be- stimmt sind. Der Geschmack schläft eher ein als
*)Büttner Diss. de functionibus Organo ani- mae peculiaribus. Hallae 1794, §. 19.
das Organ ſchläft nie, das ein ganzes Säkulum wirkt, ohne auch nur eine Stunde lang auszu- ruhn.
Wahrſcheinlich ſchläft bloſs das Nervenſy- ſtem und die übrige Organiſation nur in ſo weit, als ſie von demſelben abhängig iſt. Daher hö- ren alle Geſchäffte, die allein und unmittel- bar von den Nerven abhängen, Bewuſstſeyn, Wirkung des äuſseren und inneren Sinnes und willkührliche Bewegung im Schlaf auf. Im Ein- ſchlafen ſieht das Auge und das Ohr hört nicht mehr, die Seele fühlt ſich, als wäre ſie ohne Kör- per. Dann wird auch der innere Sinn geſchwächt, die Bilder der Phantaſie ſchwimmen ohne Hal- tung durch einander, bis auch ſie verlöſcht und mit dieſer Cataſtrophe der vollkommne Schlaf be- gonnen iſt.
Doch ſchlafen nicht alle Theile des Nerven- ſyſtems zugleich ſondern nach und nach ein, und erwachen eben ſo wieder. Auch ſchlafen ſie nicht alle gleich tief *). Die zu Tage ausgehen- den Nervenäſte, denen die Sinnorgane auf der Grenze des Mikrokosmus angehängt ſind, ſchei- nen tiefer und vollkommner einzuſchlafen, als die im Inneren der Organiſation ſich endenden Nerven, die zum Organ des Gemeingefühls be- ſtimmt ſind. Der Geſchmack ſchläft eher ein als
*)Büttner Diſſ. de functionibus Organo ani- mae peculiaribus. Hallae 1794, §. 19.
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das Organ ſchläft nie, das ein ganzes Säkulum
wirkt, ohne auch nur eine Stunde lang auszu-
ruhn.
Wahrſcheinlich ſchläft bloſs das Nervenſy-
ſtem und die übrige Organiſation nur in ſo weit,
als ſie von demſelben abhängig iſt. Daher hö-
ren alle Geſchäffte, die allein und unmittel-
bar von den Nerven abhängen, Bewuſstſeyn,
Wirkung des äuſseren und inneren Sinnes und
willkührliche Bewegung im Schlaf auf. Im Ein-
ſchlafen ſieht das Auge und das Ohr hört nicht
mehr, die Seele fühlt ſich, als wäre ſie ohne Kör-
per. Dann wird auch der innere Sinn geſchwächt,
die Bilder der Phantaſie ſchwimmen ohne Hal-
tung durch einander, bis auch ſie verlöſcht und
mit dieſer Cataſtrophe der vollkommne Schlaf be-
gonnen iſt.
Doch ſchlafen nicht alle Theile des Nerven-
ſyſtems zugleich ſondern nach und nach ein, und
erwachen eben ſo wieder. Auch ſchlafen ſie
nicht alle gleich tief *). Die zu Tage ausgehen-
den Nervenäſte, denen die Sinnorgane auf der
Grenze des Mikrokosmus angehängt ſind, ſchei-
nen tiefer und vollkommner einzuſchlafen, als
die im Inneren der Organiſation ſich endenden
Nerven, die zum Organ des Gemeingefühls be-
ſtimmt ſind. Der Geſchmack ſchläft eher ein als
*) Büttner Diſſ. de functionibus Organo ani-
mae peculiaribus. Hallae 1794, §. 19.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/94>, abgerufen am 24.11.2024.
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