In dem Grade, als das Nervensystem er- wacht, nähert sich der Traum dem Selbstbewusst- seyn. Einer meiner guten Freunde wurde in der Nacht durstig. Die Vorstellung dieser unange- nehmen Empfindung durchs Gemeingefühl ver- setzte ihn in die Gaststube eines bekannten Wirths, der mit selbstgefälliger Gesprächigkeit den Gästen die schäumenden Gläser darbot. Doch blieb der Träumer durstig. Er fragte sich selbst um die Ursache, und fand sie richtig darin, dass er die vollen Gläser nur im Traum sähe. Dann fing er an, über den Traum zu reflectiren, erwog es, ob er eine Tag- oder Nachtscene träume? Es war eine Nachtscene. Der Himmel graute, das Dorf lag in Nebel gehüllt vor ihm, und ein schwindsüchtiges Licht brannte auf dem Tisch. Nun folgte ein Anfall des Alps, den der Träu- mer fürchtete, und nach demselben erst völliges Erwachen. Wie nah war dieser Zustand dem vollen Bewusstseyn! aber doch musste noch ein Schritt geschehen, um dahin zu kommen.
Endlich muss ich noch einer sonderbaren Art der Träume erwähnen. Die Schauspie- ler treten auf, die Rollen werden vertheilt; von denselben nimmt der Träumer nur eine, die er mit seiner Persönlichkeit verbindet. Alle an- dere Akteurs sind ihm so fremd, wie fremde Menschen, ob sie gleich, so wie alle ihre Hand- lungen, Geschöpfe seiner eignen, also der nemli- chen Phantasie sind. Man hört Menschen zu,
In dem Grade, als das Nervenſyſtem er- wacht, nähert ſich der Traum dem Selbſtbewuſst- ſeyn. Einer meiner guten Freunde wurde in der Nacht durſtig. Die Vorſtellung dieſer unange- nehmen Empfindung durchs Gemeingefühl ver- ſetzte ihn in die Gaſtſtube eines bekannten Wirths, der mit ſelbſtgefälliger Geſprächigkeit den Gäſten die ſchäumenden Gläſer darbot. Doch blieb der Träumer durſtig. Er fragte ſich ſelbſt um die Urſache, und fand ſie richtig darin, daſs er die vollen Gläſer nur im Traum ſähe. Dann fing er an, über den Traum zu reflectiren, erwog es, ob er eine Tag- oder Nachtſcene träume? Es war eine Nachtſcene. Der Himmel graute, das Dorf lag in Nebel gehüllt vor ihm, und ein ſchwindſüchtiges Licht brannte auf dem Tiſch. Nun folgte ein Anfall des Alps, den der Träu- mer fürchtete, und nach demſelben erſt völliges Erwachen. Wie nah war dieſer Zuſtand dem vollen Bewuſstſeyn! aber doch muſste noch ein Schritt geſchehen, um dahin zu kommen.
Endlich muſs ich noch einer ſonderbaren Art der Träume erwähnen. Die Schauſpie- ler treten auf, die Rollen werden vertheilt; von denſelben nimmt der Träumer nur eine, die er mit ſeiner Perſönlichkeit verbindet. Alle an- dere Akteurs ſind ihm ſo fremd, wie fremde Menſchen, ob ſie gleich, ſo wie alle ihre Hand- lungen, Geſchöpfe ſeiner eignen, alſo der nemli- chen Phantaſie ſind. Man hört Menſchen zu,
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In dem Grade, als das Nervenſyſtem er-
wacht, nähert ſich der Traum dem Selbſtbewuſst-
ſeyn. Einer meiner guten Freunde wurde in der
Nacht durſtig. Die Vorſtellung dieſer unange-
nehmen Empfindung durchs Gemeingefühl ver-
ſetzte ihn in die Gaſtſtube eines bekannten
Wirths, der mit ſelbſtgefälliger Geſprächigkeit
den Gäſten die ſchäumenden Gläſer darbot. Doch
blieb der Träumer durſtig. Er fragte ſich ſelbſt
um die Urſache, und fand ſie richtig darin, daſs
er die vollen Gläſer nur im Traum ſähe. Dann
fing er an, über den Traum zu reflectiren, erwog
es, ob er eine Tag- oder Nachtſcene träume?
Es war eine Nachtſcene. Der Himmel graute,
das Dorf lag in Nebel gehüllt vor ihm, und ein
ſchwindſüchtiges Licht brannte auf dem Tiſch.
Nun folgte ein Anfall des Alps, den der Träu-
mer fürchtete, und nach demſelben erſt völliges
Erwachen. Wie nah war dieſer Zuſtand dem
vollen Bewuſstſeyn! aber doch muſste noch ein
Schritt geſchehen, um dahin zu kommen.
Endlich muſs ich noch einer ſonderbaren
Art der Träume erwähnen. Die Schauſpie-
ler treten auf, die Rollen werden vertheilt;
von denſelben nimmt der Träumer nur eine, die
er mit ſeiner Perſönlichkeit verbindet. Alle an-
dere Akteurs ſind ihm ſo fremd, wie fremde
Menſchen, ob ſie gleich, ſo wie alle ihre Hand-
lungen, Geſchöpfe ſeiner eignen, alſo der nemli-
chen Phantaſie ſind. Man hört Menſchen zu,
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/98>, abgerufen am 23.11.2024.
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