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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.
seinen danna-san tritt oder ihn verlässt, mit aller Strenge den schul-
digen Respect, fühlt sich aber sonst heimisch und als Glied der
Familie und wird auch so behandelt. So bewegt er sich frei im
Hause, nimmt nicht selten an der Unterhaltung theil und findet Bei-
fall, wenn er im Stande ist, eine passende Bemerkung zu machen
oder einen erheiternden Witz einzustreuen. Herr und Diener sollen
zu einander passen, wie Wasser und Fisch, sagt Iyeyasu im 70. Gesetz.

Die Schulerziehung des japanischen Knaben begann am 6. Tage
vom 6. Monat seines 6. Lebensjahres, an welchem er mit allen Bei-
gaben von Etikette und Feierlichkeit, welche die Nation in solchen
Dingen von jeher ausgezeichnet hat, seine erste Lection im Schön-
schreiben erhielt. Mit dem nöthigen Schreibmaterial (bunbogo) ver-
sehen, bestehend in einem Tuschkasten (sumi-ire oder suzuri-bako)
mit einem Stück Tusche (sumi), einem Pinsel (fude) von der Dicke
eines kleinen Fingers, einer Tuschschale (suzuri) und wohl auch
einem kleinen Gefässe für Wasser, sowie in Bastpapier (kami), tritt
der angehende Schüler vor seinen Lehrer, der ihm in grossen Zügen
die einfachen und complicierteren Zeichen nach einander vormacht
und mit unermüdlicher Geduld und unablässiger Freundlichkeit im
Nachahmen beisteht. Aufmerksamkeit und ernster Wille gehen dem
Lehrling dabei selten ab. Nachdem er dasselbe Zeichen vielmals
wiederholt, das Papier der ganzen Länge und Breite nach mit den
Hieroglyphen bedeckt und sich eine Form gründlich eingeprägt hat,
geht es zur zweiten und so fort. So lernt er neben der leichten ein-
heimischen Silbenschrift allmählich einen Vorrath chinesischer Wort-
zeichen. Nach der niedrigsten Schätzung musste er sich in 6 -- 8
Jahren etwa 1000 derselben aneignen. Talentvollere Schüler brach-
ten es unter tüchtigen Lehrern auf 3000--4000 und Gelehrte auf 10000
und weit darüber.

In der Kinderstube wurden Geist und Imagination durch Mähr-
chen und Heldensagen genährt und geweckt. Dort spielten besonders
die wunderbaren Geschichten aus dem Leben des kukai (Kobo Daishi)
eine hervorragende Rolle. Wie dieser grosse Gelehrte und Heilige die
bösen Geister verscheuchte, indem er einen Vers aus der Buddhisten-
Bibel mit solcher Geschicklichkeit in die Luft schrieb, dass eine
goldene Krone um jeden Buchstaben wuchs, oder wie er mit seinem
Munde, Füssen und Händen fünf verwischte Zeilen des berühmten
Kalligraphen Ogishi auf einmal wieder herstellte, und viele sonstige
Thaten wurden den Kindern pathetisch erzählt. Auch die unendliche
Geduld von Ono-no-Tofu, der sich den Frosch zum Muster nahm, wel-
cher immer wieder versuchte, auf einen Weidenzweig zu klettern, und

Rein, Japan I. 32

4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc.
seinen danna-san tritt oder ihn verlässt, mit aller Strenge den schul-
digen Respect, fühlt sich aber sonst heimisch und als Glied der
Familie und wird auch so behandelt. So bewegt er sich frei im
Hause, nimmt nicht selten an der Unterhaltung theil und findet Bei-
fall, wenn er im Stande ist, eine passende Bemerkung zu machen
oder einen erheiternden Witz einzustreuen. Herr und Diener sollen
zu einander passen, wie Wasser und Fisch, sagt Iyeyasu im 70. Gesetz.

Die Schulerziehung des japanischen Knaben begann am 6. Tage
vom 6. Monat seines 6. Lebensjahres, an welchem er mit allen Bei-
gaben von Etikette und Feierlichkeit, welche die Nation in solchen
Dingen von jeher ausgezeichnet hat, seine erste Lection im Schön-
schreiben erhielt. Mit dem nöthigen Schreibmaterial (bunbogo) ver-
sehen, bestehend in einem Tuschkasten (sumi-ire oder suzuri-bako)
mit einem Stück Tusche (sumi), einem Pinsel (fude) von der Dicke
eines kleinen Fingers, einer Tuschschale (suzuri) und wohl auch
einem kleinen Gefässe für Wasser, sowie in Bastpapier (kami), tritt
der angehende Schüler vor seinen Lehrer, der ihm in grossen Zügen
die einfachen und complicierteren Zeichen nach einander vormacht
und mit unermüdlicher Geduld und unablässiger Freundlichkeit im
Nachahmen beisteht. Aufmerksamkeit und ernster Wille gehen dem
Lehrling dabei selten ab. Nachdem er dasselbe Zeichen vielmals
wiederholt, das Papier der ganzen Länge und Breite nach mit den
Hieroglyphen bedeckt und sich eine Form gründlich eingeprägt hat,
geht es zur zweiten und so fort. So lernt er neben der leichten ein-
heimischen Silbenschrift allmählich einen Vorrath chinesischer Wort-
zeichen. Nach der niedrigsten Schätzung musste er sich in 6 — 8
Jahren etwa 1000 derselben aneignen. Talentvollere Schüler brach-
ten es unter tüchtigen Lehrern auf 3000—4000 und Gelehrte auf 10000
und weit darüber.

In der Kinderstube wurden Geist und Imagination durch Mähr-
chen und Heldensagen genährt und geweckt. Dort spielten besonders
die wunderbaren Geschichten aus dem Leben des kukai (Kôbô Daishi)
eine hervorragende Rolle. Wie dieser grosse Gelehrte und Heilige die
bösen Geister verscheuchte, indem er einen Vers aus der Buddhisten-
Bibel mit solcher Geschicklichkeit in die Luft schrieb, dass eine
goldene Krone um jeden Buchstaben wuchs, oder wie er mit seinem
Munde, Füssen und Händen fünf verwischte Zeilen des berühmten
Kalligraphen Ogishi auf einmal wieder herstellte, und viele sonstige
Thaten wurden den Kindern pathetisch erzählt. Auch die unendliche
Geduld von Ono-no-Tofu, der sich den Frosch zum Muster nahm, wel-
cher immer wieder versuchte, auf einen Weidenzweig zu klettern, und

Rein, Japan I. 32
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[497/0531] 4. Die Familie. Adoption. Erziehung und Unterricht etc. seinen danna-san tritt oder ihn verlässt, mit aller Strenge den schul- digen Respect, fühlt sich aber sonst heimisch und als Glied der Familie und wird auch so behandelt. So bewegt er sich frei im Hause, nimmt nicht selten an der Unterhaltung theil und findet Bei- fall, wenn er im Stande ist, eine passende Bemerkung zu machen oder einen erheiternden Witz einzustreuen. Herr und Diener sollen zu einander passen, wie Wasser und Fisch, sagt Iyeyasu im 70. Gesetz. Die Schulerziehung des japanischen Knaben begann am 6. Tage vom 6. Monat seines 6. Lebensjahres, an welchem er mit allen Bei- gaben von Etikette und Feierlichkeit, welche die Nation in solchen Dingen von jeher ausgezeichnet hat, seine erste Lection im Schön- schreiben erhielt. Mit dem nöthigen Schreibmaterial (bunbogo) ver- sehen, bestehend in einem Tuschkasten (sumi-ire oder suzuri-bako) mit einem Stück Tusche (sumi), einem Pinsel (fude) von der Dicke eines kleinen Fingers, einer Tuschschale (suzuri) und wohl auch einem kleinen Gefässe für Wasser, sowie in Bastpapier (kami), tritt der angehende Schüler vor seinen Lehrer, der ihm in grossen Zügen die einfachen und complicierteren Zeichen nach einander vormacht und mit unermüdlicher Geduld und unablässiger Freundlichkeit im Nachahmen beisteht. Aufmerksamkeit und ernster Wille gehen dem Lehrling dabei selten ab. Nachdem er dasselbe Zeichen vielmals wiederholt, das Papier der ganzen Länge und Breite nach mit den Hieroglyphen bedeckt und sich eine Form gründlich eingeprägt hat, geht es zur zweiten und so fort. So lernt er neben der leichten ein- heimischen Silbenschrift allmählich einen Vorrath chinesischer Wort- zeichen. Nach der niedrigsten Schätzung musste er sich in 6 — 8 Jahren etwa 1000 derselben aneignen. Talentvollere Schüler brach- ten es unter tüchtigen Lehrern auf 3000—4000 und Gelehrte auf 10000 und weit darüber. In der Kinderstube wurden Geist und Imagination durch Mähr- chen und Heldensagen genährt und geweckt. Dort spielten besonders die wunderbaren Geschichten aus dem Leben des kukai (Kôbô Daishi) eine hervorragende Rolle. Wie dieser grosse Gelehrte und Heilige die bösen Geister verscheuchte, indem er einen Vers aus der Buddhisten- Bibel mit solcher Geschicklichkeit in die Luft schrieb, dass eine goldene Krone um jeden Buchstaben wuchs, oder wie er mit seinem Munde, Füssen und Händen fünf verwischte Zeilen des berühmten Kalligraphen Ogishi auf einmal wieder herstellte, und viele sonstige Thaten wurden den Kindern pathetisch erzählt. Auch die unendliche Geduld von Ono-no-Tofu, der sich den Frosch zum Muster nahm, wel- cher immer wieder versuchte, auf einen Weidenzweig zu klettern, und Rein, Japan I. 32

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/531>, abgerufen am 22.11.2024.