jenem Eindringen des chinesischen Einflusses zeigen uns, dass das Land damals noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kunstfertigkeit und Geschmacksentwickelung stand. In den Formen und Decorationen der keramischen Funde finden wir eine grosse Verwandtschaft mit der ersten Culturphase vieler andern und theilweise weit voneinander woh- nenden Völker. Die Formen sind plump, der Kugelgestalt sich nähernd, die Decorationen einfach. Wie alle jungen Culturvölker, so benutzten auch die älteren Bewohner Japans vor Berührung mit Chinesen und Koreanern in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung als Mo- tive zur Verzierung neben einfachen Linien und Punkten keine Pflan- zen-, sondern Thiermodelle.
In Europa liess vom Mittelalter ab die sogenannte freie akade- mische Kunst, d. i. die Malerei und Bildhauerei, das Kunstgewerbe im Stich, ging ihre eigenen Wege und eilte demselben weit voraus. In Ostasien ist das anders. Hier ist umgekehrt die freie Kunst hinter der Kunst im Gewerbe zurückgeblieben und hat sich sehr einseitig entwickelt. Insbesondere ist der Ostasiate in der malerischen Dar- stellung des menschlichen Körpers seit Jahrhunderten in conventionel- len Formen befangen. Er malt nach alter Art traditionelle Typen, so wenig sie auch der Natur entsprechen mögen.
Ein nüchterner Naturalismus einerseits und freies Spiel einer leb- haften Phantasie anderseits beherrschen das Kunstgewerbe Ostasiens. Aber nirgends haben diese Züge eine solche Ausbildung gefunden, wie in Japan. Neben einem hochentwickelten Sinn und Verständniss für das Schöne in der Natur und Kunst finden wir die darum um so auffallendere Neigung zum Grotesken und Unsymmetrischen, neben überraschender und fesselnder Naturtreue der Entwürfe und Ausfüh- rungen eine stark entwickelte Phantasie und Hinneigung zur Un- regelmässigkeit und zu humoristischen Darstellungen, neben hoher tech- nischer Vollendung vielfach Mangel an Perspective und Ebenmaass. Das häufige Abspringen von der Linie und Symmetrie in der Deco- ration verletzt unser Auge und Gefühl etwa so, wie in einzelnen Stücken der Wagner'schen Musik, z. B. im Siegfried, die vielen Dis- sonanzen, welche auf eine Reihe harmonischer Accorde folgen, das Ohr vieler Musikfreunde beleidigen.
Das Gefallen der Japaner am Bizarren, Unsymmetrischen und in unsern Augen Unschönen zeigt sich nicht blos im Kunstgewerbe, son- dern z. B. auch in der Gärtnerei, in der Art, wie sie ihre Blumen stecken, und insbesondere ihren Lieblingsbaum, die Kiefer oder Matsu (Pinus Massoniana und P. densiflora), häufig in Gärten ziehen. Das Auge des Japaners erfreut sich an ihren Krüppelgestalten, an einzel-
III. Kunstgewerbe und Verwandtes.
jenem Eindringen des chinesischen Einflusses zeigen uns, dass das Land damals noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kunstfertigkeit und Geschmacksentwickelung stand. In den Formen und Decorationen der keramischen Funde finden wir eine grosse Verwandtschaft mit der ersten Culturphase vieler andern und theilweise weit voneinander woh- nenden Völker. Die Formen sind plump, der Kugelgestalt sich nähernd, die Decorationen einfach. Wie alle jungen Culturvölker, so benutzten auch die älteren Bewohner Japans vor Berührung mit Chinesen und Koreanern in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung als Mo- tive zur Verzierung neben einfachen Linien und Punkten keine Pflan- zen-, sondern Thiermodelle.
In Europa liess vom Mittelalter ab die sogenannte freie akade- mische Kunst, d. i. die Malerei und Bildhauerei, das Kunstgewerbe im Stich, ging ihre eigenen Wege und eilte demselben weit voraus. In Ostasien ist das anders. Hier ist umgekehrt die freie Kunst hinter der Kunst im Gewerbe zurückgeblieben und hat sich sehr einseitig entwickelt. Insbesondere ist der Ostasiate in der malerischen Dar- stellung des menschlichen Körpers seit Jahrhunderten in conventionel- len Formen befangen. Er malt nach alter Art traditionelle Typen, so wenig sie auch der Natur entsprechen mögen.
Ein nüchterner Naturalismus einerseits und freies Spiel einer leb- haften Phantasie anderseits beherrschen das Kunstgewerbe Ostasiens. Aber nirgends haben diese Züge eine solche Ausbildung gefunden, wie in Japan. Neben einem hochentwickelten Sinn und Verständniss für das Schöne in der Natur und Kunst finden wir die darum um so auffallendere Neigung zum Grotesken und Unsymmetrischen, neben überraschender und fesselnder Naturtreue der Entwürfe und Ausfüh- rungen eine stark entwickelte Phantasie und Hinneigung zur Un- regelmässigkeit und zu humoristischen Darstellungen, neben hoher tech- nischer Vollendung vielfach Mangel an Perspective und Ebenmaass. Das häufige Abspringen von der Linie und Symmetrie in der Deco- ration verletzt unser Auge und Gefühl etwa so, wie in einzelnen Stücken der Wagner’schen Musik, z. B. im Siegfried, die vielen Dis- sonanzen, welche auf eine Reihe harmonischer Accorde folgen, das Ohr vieler Musikfreunde beleidigen.
Das Gefallen der Japaner am Bizarren, Unsymmetrischen und in unsern Augen Unschönen zeigt sich nicht blos im Kunstgewerbe, son- dern z. B. auch in der Gärtnerei, in der Art, wie sie ihre Blumen stecken, und insbesondere ihren Lieblingsbaum, die Kiefer oder Matsu (Pinus Massoniana und P. densiflora), häufig in Gärten ziehen. Das Auge des Japaners erfreut sich an ihren Krüppelgestalten, an einzel-
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III. Kunstgewerbe und Verwandtes.
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Land damals noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kunstfertigkeit
und Geschmacksentwickelung stand. In den Formen und Decorationen
der keramischen Funde finden wir eine grosse Verwandtschaft mit der
ersten Culturphase vieler andern und theilweise weit voneinander woh-
nenden Völker. Die Formen sind plump, der Kugelgestalt sich nähernd,
die Decorationen einfach. Wie alle jungen Culturvölker, so benutzten
auch die älteren Bewohner Japans vor Berührung mit Chinesen und
Koreanern in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung als Mo-
tive zur Verzierung neben einfachen Linien und Punkten keine Pflan-
zen-, sondern Thiermodelle.
In Europa liess vom Mittelalter ab die sogenannte freie akade-
mische Kunst, d. i. die Malerei und Bildhauerei, das Kunstgewerbe
im Stich, ging ihre eigenen Wege und eilte demselben weit voraus. In
Ostasien ist das anders. Hier ist umgekehrt die freie Kunst hinter
der Kunst im Gewerbe zurückgeblieben und hat sich sehr einseitig
entwickelt. Insbesondere ist der Ostasiate in der malerischen Dar-
stellung des menschlichen Körpers seit Jahrhunderten in conventionel-
len Formen befangen. Er malt nach alter Art traditionelle Typen, so
wenig sie auch der Natur entsprechen mögen.
Ein nüchterner Naturalismus einerseits und freies Spiel einer leb-
haften Phantasie anderseits beherrschen das Kunstgewerbe Ostasiens.
Aber nirgends haben diese Züge eine solche Ausbildung gefunden,
wie in Japan. Neben einem hochentwickelten Sinn und Verständniss
für das Schöne in der Natur und Kunst finden wir die darum um so
auffallendere Neigung zum Grotesken und Unsymmetrischen, neben
überraschender und fesselnder Naturtreue der Entwürfe und Ausfüh-
rungen eine stark entwickelte Phantasie und Hinneigung zur Un-
regelmässigkeit und zu humoristischen Darstellungen, neben hoher tech-
nischer Vollendung vielfach Mangel an Perspective und Ebenmaass.
Das häufige Abspringen von der Linie und Symmetrie in der Deco-
ration verletzt unser Auge und Gefühl etwa so, wie in einzelnen
Stücken der Wagner’schen Musik, z. B. im Siegfried, die vielen Dis-
sonanzen, welche auf eine Reihe harmonischer Accorde folgen, das
Ohr vieler Musikfreunde beleidigen.
Das Gefallen der Japaner am Bizarren, Unsymmetrischen und in
unsern Augen Unschönen zeigt sich nicht blos im Kunstgewerbe, son-
dern z. B. auch in der Gärtnerei, in der Art, wie sie ihre Blumen
stecken, und insbesondere ihren Lieblingsbaum, die Kiefer oder Matsu
(Pinus Massoniana und P. densiflora), häufig in Gärten ziehen. Das
Auge des Japaners erfreut sich an ihren Krüppelgestalten, an einzel-
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/400>, abgerufen am 22.11.2024.
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