"Alles was du mir sagst, bezaubert mich, mein Sohn; wärst du auch kein Regent, ich würde dir doch meine Tochter geben. He! du ersetzest mir sie in dieser jungen und reizenden Person in deiner So- phie, die auch die meinige ist."
Sie verliessen den Fels und gingen zum Abend- essen.
Den andern Morgen theilte Victorin seinem Schwiegervater die Gesetze mit, die er in seinem klei- nen Staate errichtet hatte. Sie waren so schön, und so gerecht, daß man nicht genug sich wundern kann, wie der blosse Sohn eines Fiscalprocurators so viel Einsicht erlangt habe. Aber der Adel giebt uns weder Verdienst noch Verstand; Verdienst und Verstand hingegen können uns den Adel erwerben: dies ist eine Wahrheit von der man sich gehörig über- zeugen sollte. Wenn die Grossen bedächten, daß sie im Grunde keine Rechte haben, uud daß es bloß die Grundsätze des gemeinschaftlichen Nutzens sind, die sie in ihrem Genusse erhalten, so würden sie weniger eitel, weniger hart und weniger eigenwillig seyn. Wenn obrigkeitliche Personen bedächten, daß sie bloß des Volks wegen da sind und das Volk nicht ihrent- wegen, so würden sie ohne Zweifel weit rechtschaf- fener, oft weniger grausam gegen die Schuldigen etc. verfahren.
Victorins Gesetze waren äusserst einfach. Jeder Fall war bloß mit einem Worte bezeichnet.
"Mord: vom Berge hinuntergestürzt."
"Raub:
G 4
„Alles was du mir ſagſt, bezaubert mich, mein Sohn; waͤrſt du auch kein Regent, ich wuͤrde dir doch meine Tochter geben. He! du erſetzeſt mir ſie in dieſer jungen und reizenden Perſon in deiner So- phie, die auch die meinige iſt.‟
Sie verlieſſen den Fels und gingen zum Abend- eſſen.
Den andern Morgen theilte Victorin ſeinem Schwiegervater die Geſetze mit, die er in ſeinem klei- nen Staate errichtet hatte. Sie waren ſo ſchoͤn, und ſo gerecht, daß man nicht genug ſich wundern kann, wie der bloſſe Sohn eines Fiſcalprocurators ſo viel Einſicht erlangt habe. Aber der Adel giebt uns weder Verdienſt noch Verſtand; Verdienſt und Verſtand hingegen koͤnnen uns den Adel erwerben: dies iſt eine Wahrheit von der man ſich gehoͤrig uͤber- zeugen ſollte. Wenn die Groſſen bedaͤchten, daß ſie im Grunde keine Rechte haben, uud daß es bloß die Grundſaͤtze des gemeinſchaftlichen Nutzens ſind, die ſie in ihrem Genuſſe erhalten, ſo wuͤrden ſie weniger eitel, weniger hart und weniger eigenwillig ſeyn. Wenn obrigkeitliche Perſonen bedaͤchten, daß ſie bloß des Volks wegen da ſind und das Volk nicht ihrent- wegen, ſo wuͤrden ſie ohne Zweifel weit rechtſchaf- fener, oft weniger grauſam gegen die Schuldigen ꝛc. verfahren.
Victorins Geſetze waren aͤuſſerſt einfach. Jeder Fall war bloß mit einem Worte bezeichnet.
„Mord: vom Berge hinuntergeſtuͤrzt.‟
„Raub:
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„Alles was du mir ſagſt, bezaubert mich, mein
Sohn; waͤrſt du auch kein Regent, ich wuͤrde dir
doch meine Tochter geben. He! du erſetzeſt mir ſie
in dieſer jungen und reizenden Perſon in deiner So-
phie, die auch die meinige iſt.‟
Sie verlieſſen den Fels und gingen zum Abend-
eſſen.
Den andern Morgen theilte Victorin ſeinem
Schwiegervater die Geſetze mit, die er in ſeinem klei-
nen Staate errichtet hatte. Sie waren ſo ſchoͤn,
und ſo gerecht, daß man nicht genug ſich wundern
kann, wie der bloſſe Sohn eines Fiſcalprocurators
ſo viel Einſicht erlangt habe. Aber der Adel giebt
uns weder Verdienſt noch Verſtand; Verdienſt und
Verſtand hingegen koͤnnen uns den Adel erwerben:
dies iſt eine Wahrheit von der man ſich gehoͤrig uͤber-
zeugen ſollte. Wenn die Groſſen bedaͤchten, daß ſie
im Grunde keine Rechte haben, uud daß es bloß die
Grundſaͤtze des gemeinſchaftlichen Nutzens ſind, die
ſie in ihrem Genuſſe erhalten, ſo wuͤrden ſie weniger
eitel, weniger hart und weniger eigenwillig ſeyn.
Wenn obrigkeitliche Perſonen bedaͤchten, daß ſie bloß
des Volks wegen da ſind und das Volk nicht ihrent-
wegen, ſo wuͤrden ſie ohne Zweifel weit rechtſchaf-
fener, oft weniger grauſam gegen die Schuldigen ꝛc.
verfahren.
Victorins Geſetze waren aͤuſſerſt einfach. Jeder
Fall war bloß mit einem Worte bezeichnet.
„Mord: vom Berge hinuntergeſtuͤrzt.‟
„Raub:
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/111>, abgerufen am 21.11.2024.
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