Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.bei ihnen auch so mächtig, daß sie statt aller übri- gen diente. Männer, Weiber und Jugend, al- les athmete nur Wollust. Jedermann suchte sie, mit dem eifrigsten Bestreben, und überließ sich ihr, nachdem er sie gefunden, ohne Maasse. Diese ganze Gattung, schien in Gemeinschaft zu leben, und das weibliche Geschlecht alle Kinder ohn' Un- terschied zu liebkosen. Alexander sah ihnen zuwei- len Stunden lang zu, und konte nicht umhin bei sich selbst zu sagen: -- Aber diese Eselmenschen sind doch glücklich in ihrem Thierischen Stande! sie empfinden lebhaft, und genüssen mit Entzücken: ohne Mühe finden sie den Gegenstand ihrer Wün- sche, was bedarf es mehr um glücklich zu sein! Ach! würden wir ihnen wohl einen Dienst erweisen, wenn wir es dahin brächten, sie zu unserm Gra- de von Einsicht und Vernunft zu erheben! Wär' es nicht ein wesentlicher Verlust für sie, wenn sie zugleich auch unsre Sorgen, unsre eigennützigen und niedrigen Leidenschaften, unsere traurige Kenntnis von Gut und Böse und unsere Begriffe vom Tode erwürben? Ach! was unternehmen wir! Dies sind die Betrachtungen des klugen und empfindsa- men Alexanders während seiner zweitägigen Ein- samkeit auf der Jnsel. Nach einer reichlichen Ue- berlegung fand er iedoch, daß diese Eselmenschen nützlich sein könten, zwar nicht zum akademischen Unterricht, doch zu tüchtigen Lastträgern, aber dieser Gedanke kam nicht zur Würklichkeit, weil er diese Unglücklichen früher oder später in eine Skla- verei gestürzt haben würde. Am Abend des zwei- ten
bei ihnen auch ſo maͤchtig, daß ſie ſtatt aller uͤbri- gen diente. Maͤnner, Weiber und Jugend, al- les athmete nur Wolluſt. Jedermann ſuchte ſie, mit dem eifrigſten Beſtreben, und uͤberließ ſich ihr, nachdem er ſie gefunden, ohne Maaſſe. Dieſe ganze Gattung, ſchien in Gemeinſchaft zu leben, und das weibliche Geſchlecht alle Kinder ohn’ Un- terſchied zu liebkoſen. Alexander ſah ihnen zuwei- len Stunden lang zu, und konte nicht umhin bei ſich ſelbſt zu ſagen: — Aber dieſe Eſelmenſchen ſind doch gluͤcklich in ihrem Thieriſchen Stande! ſie empfinden lebhaft, und genuͤſſen mit Entzuͤcken: ohne Muͤhe finden ſie den Gegenſtand ihrer Wuͤn- ſche, was bedarf es mehr um gluͤcklich zu ſein! Ach! wuͤrden wir ihnen wohl einen Dienſt erweiſen, wenn wir es dahin braͤchten, ſie zu unſerm Gra- de von Einſicht und Vernunft zu erheben! Waͤr’ es nicht ein weſentlicher Verluſt fuͤr ſie, wenn ſie zugleich auch unſre Sorgen, unſre eigennuͤtzigen und niedrigen Leidenſchaften, unſere traurige Kenntnis von Gut und Boͤſe und unſere Begriffe vom Tode erwuͤrben? Ach! was unternehmen wir! Dies ſind die Betrachtungen des klugen und empfindſa- men Alexanders waͤhrend ſeiner zweitaͤgigen Ein- ſamkeit auf der Jnſel. Nach einer reichlichen Ue- berlegung fand er iedoch, daß dieſe Eſelmenſchen nuͤtzlich ſein koͤnten, zwar nicht zum akademiſchen Unterricht, doch zu tuͤchtigen Laſttraͤgern, aber dieſer Gedanke kam nicht zur Wuͤrklichkeit, weil er dieſe Ungluͤcklichen fruͤher oder ſpaͤter in eine Skla- verei geſtuͤrzt haben wuͤrde. Am Abend des zwei- ten
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les athmete nur Wolluſt. Jedermann ſuchte ſie,
mit dem eifrigſten Beſtreben, und uͤberließ ſich
ihr, nachdem er ſie gefunden, ohne Maaſſe. Dieſe
ganze Gattung, ſchien in Gemeinſchaft zu leben,
und das weibliche Geſchlecht alle Kinder ohn’ Un-
terſchied zu liebkoſen. Alexander ſah ihnen zuwei-
len Stunden lang zu, und konte nicht umhin bei ſich
ſelbſt zu ſagen: — Aber dieſe Eſelmenſchen ſind
doch gluͤcklich in ihrem Thieriſchen Stande! ſie
empfinden lebhaft, und genuͤſſen mit Entzuͤcken:
ohne Muͤhe finden ſie den Gegenſtand ihrer Wuͤn-
ſche, was bedarf es mehr um gluͤcklich zu ſein!
Ach! wuͤrden wir ihnen wohl einen Dienſt erweiſen,
wenn wir es dahin braͤchten, ſie zu unſerm Gra-
de von Einſicht und Vernunft zu erheben! Waͤr’
es nicht ein weſentlicher Verluſt fuͤr ſie, wenn ſie
zugleich auch unſre Sorgen, unſre eigennuͤtzigen und
niedrigen Leidenſchaften, unſere traurige Kenntnis
von Gut und Boͤſe und unſere Begriffe vom Tode
erwuͤrben? Ach! was unternehmen wir! Dies
ſind die Betrachtungen des klugen und empfindſa-
men Alexanders waͤhrend ſeiner zweitaͤgigen Ein-
ſamkeit auf der Jnſel. Nach einer reichlichen Ue-
berlegung fand er iedoch, daß dieſe Eſelmenſchen
nuͤtzlich ſein koͤnten, zwar nicht zum akademiſchen
Unterricht, doch zu tuͤchtigen Laſttraͤgern, aber
dieſer Gedanke kam nicht zur Wuͤrklichkeit, weil er
dieſe Ungluͤcklichen fruͤher oder ſpaͤter in eine Skla-
verei geſtuͤrzt haben wuͤrde. Am Abend des zwei-
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