Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



Die Wahl der Weiber geht bei uns alle
Jahr vor sich, welches nicht so viel sagen
will, daß die Weiber sich alle Jahr verheiratheten;
dies geschieht nur alle zwei Jahr, weil sie selbst
stillen. Zu dieser Wahl bereitet man sich einen
Monat lang durch gänzliche Enthaltsamkeit vor,
theils um die Kräfte wieder zu ersetzen, theils um
den Geschmack an Vergnügen von neuem zu bele-
ben. Ueberdies trägt diese Enthaltsamkeit viel
zur Zeugung kraftvoller Kinder bei. Wenn der
Tag der Wahl erscheint, stellen sich alle Männer
und Weiber, schwangere und stillende, einer ie-
den Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegen
über. Jst man mit der gegenüberstehenden Person
nicht zufrieden, so wechselt man und durchläuft die
Reihe von einem Ende bis zum andern, so lange
bis man etwas anständiges findet, und sich alles
gepaart hat. Drauf feuert man ein algemeines
Fest, das schon vorher veranstaltet worden ist,
und ungefähr einen Monat lang dauert. Es ist
etwas seltnes, wenn dieienigen Weiber, die noch
schwanger werden sollen, es nicht alle in diesem
ersten Monate des Vergnügens werden: auch ha-
ben wir zur Zeit der Wahl sehr wenig schwangere
Weiber und zwar unter fünf hundert kaum eine.
Alle kommen in der Zeit gewöhnlich aus dem Wo-
chenbette. Es ist den Gatten erlaubt einander
wieder zu wählen. Am Ende der Reihe stelt
man iährlich dieienigen Junglinge und Mädchen,
welche sich zum erstenmale verbinden, aber sie ha-
ben nicht die Wahlfreiheit, wie die schon verhei-

rathe-
X 2



Die Wahl der Weiber geht bei uns alle
Jahr vor ſich, welches nicht ſo viel ſagen
will, daß die Weiber ſich alle Jahr verheiratheten;
dies geſchieht nur alle zwei Jahr, weil ſie ſelbſt
ſtillen. Zu dieſer Wahl bereitet man ſich einen
Monat lang durch gaͤnzliche Enthaltſamkeit vor,
theils um die Kraͤfte wieder zu erſetzen, theils um
den Geſchmack an Vergnuͤgen von neuem zu bele-
ben. Ueberdies traͤgt dieſe Enthaltſamkeit viel
zur Zeugung kraftvoller Kinder bei. Wenn der
Tag der Wahl erſcheint, ſtellen ſich alle Maͤnner
und Weiber, ſchwangere und ſtillende, einer ie-
den Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegen
uͤber. Jſt man mit der gegenuͤberſtehenden Perſon
nicht zufrieden, ſo wechſelt man und durchlaͤuft die
Reihe von einem Ende bis zum andern, ſo lange
bis man etwas anſtaͤndiges findet, und ſich alles
gepaart hat. Drauf feuert man ein algemeines
Feſt, das ſchon vorher veranſtaltet worden iſt,
und ungefaͤhr einen Monat lang dauert. Es iſt
etwas ſeltnes, wenn dieienigen Weiber, die noch
ſchwanger werden ſollen, es nicht alle in dieſem
erſten Monate des Vergnuͤgens werden: auch ha-
ben wir zur Zeit der Wahl ſehr wenig ſchwangere
Weiber und zwar unter fuͤnf hundert kaum eine.
Alle kommen in der Zeit gewoͤhnlich aus dem Wo-
chenbette. Es iſt den Gatten erlaubt einander
wieder zu waͤhlen. Am Ende der Reihe ſtelt
man iaͤhrlich dieienigen Junglinge und Maͤdchen,
welche ſich zum erſtenmale verbinden, aber ſie ha-
ben nicht die Wahlfreiheit, wie die ſchon verhei-

rathe-
X 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0331" n="323"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Die Wahl der Weiber geht bei uns alle<lb/>
Jahr vor &#x017F;ich, welches nicht &#x017F;o viel &#x017F;agen<lb/>
will, daß die Weiber &#x017F;ich alle Jahr verheiratheten;<lb/>
dies ge&#x017F;chieht nur alle zwei Jahr, weil &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tillen. Zu die&#x017F;er Wahl bereitet man &#x017F;ich einen<lb/>
Monat lang durch ga&#x0364;nzliche Enthalt&#x017F;amkeit vor,<lb/>
theils um die Kra&#x0364;fte wieder zu er&#x017F;etzen, theils um<lb/>
den Ge&#x017F;chmack an Vergnu&#x0364;gen von neuem zu bele-<lb/>
ben. Ueberdies tra&#x0364;gt die&#x017F;e Enthalt&#x017F;amkeit viel<lb/>
zur Zeugung kraftvoller Kinder bei. Wenn der<lb/>
Tag der Wahl er&#x017F;cheint, &#x017F;tellen &#x017F;ich alle Ma&#x0364;nner<lb/>
und Weiber, &#x017F;chwangere und &#x017F;tillende, einer ie-<lb/>
den Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegen<lb/>
u&#x0364;ber. J&#x017F;t man mit der gegenu&#x0364;ber&#x017F;tehenden Per&#x017F;on<lb/>
nicht zufrieden, &#x017F;o wech&#x017F;elt man und durchla&#x0364;uft die<lb/>
Reihe von einem Ende bis zum andern, &#x017F;o lange<lb/>
bis man etwas an&#x017F;ta&#x0364;ndiges findet, und &#x017F;ich alles<lb/>
gepaart hat. Drauf feuert man ein algemeines<lb/>
Fe&#x017F;t, das &#x017F;chon vorher veran&#x017F;taltet worden i&#x017F;t,<lb/>
und ungefa&#x0364;hr einen Monat lang dauert. Es i&#x017F;t<lb/>
etwas &#x017F;eltnes, wenn dieienigen Weiber, die noch<lb/>
&#x017F;chwanger werden &#x017F;ollen, es nicht alle in die&#x017F;em<lb/>
er&#x017F;ten Monate des Vergnu&#x0364;gens werden: auch ha-<lb/>
ben wir zur Zeit der Wahl &#x017F;ehr wenig &#x017F;chwangere<lb/>
Weiber und zwar unter fu&#x0364;nf hundert kaum eine.<lb/>
Alle kommen in der Zeit gewo&#x0364;hnlich aus dem Wo-<lb/>
chenbette. Es i&#x017F;t den Gatten erlaubt einander<lb/>
wieder zu wa&#x0364;hlen. Am Ende der Reihe &#x017F;telt<lb/>
man ia&#x0364;hrlich dieienigen Junglinge und Ma&#x0364;dchen,<lb/>
welche &#x017F;ich zum er&#x017F;tenmale verbinden, aber &#x017F;ie ha-<lb/>
ben nicht die Wahlfreiheit, wie die &#x017F;chon verhei-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X 2</fw><fw place="bottom" type="catch">rathe-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0331] Die Wahl der Weiber geht bei uns alle Jahr vor ſich, welches nicht ſo viel ſagen will, daß die Weiber ſich alle Jahr verheiratheten; dies geſchieht nur alle zwei Jahr, weil ſie ſelbſt ſtillen. Zu dieſer Wahl bereitet man ſich einen Monat lang durch gaͤnzliche Enthaltſamkeit vor, theils um die Kraͤfte wieder zu erſetzen, theils um den Geſchmack an Vergnuͤgen von neuem zu bele- ben. Ueberdies traͤgt dieſe Enthaltſamkeit viel zur Zeugung kraftvoller Kinder bei. Wenn der Tag der Wahl erſcheint, ſtellen ſich alle Maͤnner und Weiber, ſchwangere und ſtillende, einer ie- den Kolonie in zwei gleiche Reihen einander gegen uͤber. Jſt man mit der gegenuͤberſtehenden Perſon nicht zufrieden, ſo wechſelt man und durchlaͤuft die Reihe von einem Ende bis zum andern, ſo lange bis man etwas anſtaͤndiges findet, und ſich alles gepaart hat. Drauf feuert man ein algemeines Feſt, das ſchon vorher veranſtaltet worden iſt, und ungefaͤhr einen Monat lang dauert. Es iſt etwas ſeltnes, wenn dieienigen Weiber, die noch ſchwanger werden ſollen, es nicht alle in dieſem erſten Monate des Vergnuͤgens werden: auch ha- ben wir zur Zeit der Wahl ſehr wenig ſchwangere Weiber und zwar unter fuͤnf hundert kaum eine. Alle kommen in der Zeit gewoͤhnlich aus dem Wo- chenbette. Es iſt den Gatten erlaubt einander wieder zu waͤhlen. Am Ende der Reihe ſtelt man iaͤhrlich dieienigen Junglinge und Maͤdchen, welche ſich zum erſtenmale verbinden, aber ſie ha- ben nicht die Wahlfreiheit, wie die ſchon verhei- rathe- X 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/331
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/331>, abgerufen am 25.11.2024.