Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



das Gedächtnis und die Vorhersehungskraft über-
schauen können. Dies ist hinlänglich, uns ange-
nehm zu beschäftigen. Das Andenken von beinah un-
zählichen Vergangenheiten würde unser Gehirn nur
verwirren: es würde dasselbe zu sehr anhäufen,
und unsere Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen
Dinge schwächen. Dies Andenken würde die Kin-
der tödten, indem es sie zu klug machte: es würde
den Haß und die Zwistigkeiten bei lasterhaften Völ-
kern ins unendliche fortsetzen etc. Die weise Na-
tur hat es nicht haben wollen. Aber die Aehn-
lichkeit zeigt, daß wir nichts, als eine Auflösung
leiden, und diese ist nöthig; die Pflanzen lösen
sich auf und kommen wieder hervor. Jedes Thier
schöpft sein Leben aus den nämlichen Quellen. Es
ist der nämliche Verstand und die nämliche Mate-
rie, woraus sie bestehen. Es ist daher ewig,
wie sein Anfang. Er ist es, trotz des Todes der
Planeten und der Sonnen; weil der Tod dieser
grossen Wesen eben so wenig eine Vernichtung ist,
als der unsrige und der Planeten. Dies sind die
Grundsätze, die wir unsrer Jugend einprägen.
Sie ist so für das gemeine Wohl eingenommen,
daß sie freudig ihr Leben in der Zuversicht hinge-
ben würde, bald nach Auflösung des Körpers ihr
Dasein wieder zu erlangen, und solchergestalt
ewig dies schöne Land zu bewohnen. Mit der
grösten Aufmerksamkeit suchen wir die baldige Auf-
lösung der todten Körper zu befördern, und wir
sehen die geschwindeste auch für die gottesfürchtigste
an, wir verbrennen sie. Die Beerdigung ist die

zweite
Y 2



das Gedaͤchtnis und die Vorherſehungskraft uͤber-
ſchauen koͤnnen. Dies iſt hinlaͤnglich, uns ange-
nehm zu beſchaͤftigen. Das Andenken von beinah un-
zaͤhlichen Vergangenheiten wuͤrde unſer Gehirn nur
verwirren: es wuͤrde daſſelbe zu ſehr anhaͤufen,
und unſere Aufmerkſamkeit auf die gegenwaͤrtigen
Dinge ſchwaͤchen. Dies Andenken wuͤrde die Kin-
der toͤdten, indem es ſie zu klug machte: es wuͤrde
den Haß und die Zwiſtigkeiten bei laſterhaften Voͤl-
kern ins unendliche fortſetzen ꝛc. Die weiſe Na-
tur hat es nicht haben wollen. Aber die Aehn-
lichkeit zeigt, daß wir nichts, als eine Aufloͤſung
leiden, und dieſe iſt noͤthig; die Pflanzen loͤſen
ſich auf und kommen wieder hervor. Jedes Thier
ſchoͤpft ſein Leben aus den naͤmlichen Quellen. Es
iſt der naͤmliche Verſtand und die naͤmliche Mate-
rie, woraus ſie beſtehen. Es iſt daher ewig,
wie ſein Anfang. Er iſt es, trotz des Todes der
Planeten und der Sonnen; weil der Tod dieſer
groſſen Weſen eben ſo wenig eine Vernichtung iſt,
als der unſrige und der Planeten. Dies ſind die
Grundſaͤtze, die wir unſrer Jugend einpraͤgen.
Sie iſt ſo fuͤr das gemeine Wohl eingenommen,
daß ſie freudig ihr Leben in der Zuverſicht hinge-
ben wuͤrde, bald nach Aufloͤſung des Koͤrpers ihr
Daſein wieder zu erlangen, und ſolchergeſtalt
ewig dies ſchoͤne Land zu bewohnen. Mit der
groͤſten Aufmerkſamkeit ſuchen wir die baldige Auf-
loͤſung der todten Koͤrper zu befoͤrdern, und wir
ſehen die geſchwindeſte auch fuͤr die gottesfuͤrchtigſte
an, wir verbrennen ſie. Die Beerdigung iſt die

zweite
Y 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0347" n="339"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
das Geda&#x0364;chtnis und die Vorher&#x017F;ehungskraft u&#x0364;ber-<lb/>
&#x017F;chauen ko&#x0364;nnen. Dies i&#x017F;t hinla&#x0364;nglich, uns ange-<lb/>
nehm zu be&#x017F;cha&#x0364;ftigen. Das Andenken von beinah un-<lb/>
za&#x0364;hlichen Vergangenheiten wu&#x0364;rde un&#x017F;er Gehirn nur<lb/>
verwirren: es wu&#x0364;rde da&#x017F;&#x017F;elbe zu &#x017F;ehr anha&#x0364;ufen,<lb/>
und un&#x017F;ere Aufmerk&#x017F;amkeit auf die gegenwa&#x0364;rtigen<lb/>
Dinge &#x017F;chwa&#x0364;chen. Dies Andenken wu&#x0364;rde die Kin-<lb/>
der to&#x0364;dten, indem es &#x017F;ie zu klug machte: es wu&#x0364;rde<lb/>
den Haß und die Zwi&#x017F;tigkeiten bei la&#x017F;terhaften Vo&#x0364;l-<lb/>
kern ins unendliche fort&#x017F;etzen &#xA75B;c. Die wei&#x017F;e Na-<lb/>
tur hat es nicht haben wollen. Aber die Aehn-<lb/>
lichkeit zeigt, daß wir nichts, als eine Auflo&#x0364;&#x017F;ung<lb/>
leiden, und die&#x017F;e i&#x017F;t no&#x0364;thig; die Pflanzen lo&#x0364;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ich auf und kommen wieder hervor. Jedes Thier<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pft &#x017F;ein Leben aus den na&#x0364;mlichen Quellen. Es<lb/>
i&#x017F;t der na&#x0364;mliche Ver&#x017F;tand und die na&#x0364;mliche Mate-<lb/>
rie, woraus &#x017F;ie be&#x017F;tehen. Es i&#x017F;t daher ewig,<lb/>
wie &#x017F;ein Anfang. Er i&#x017F;t es, trotz des Todes der<lb/>
Planeten und der Sonnen; weil der Tod die&#x017F;er<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en We&#x017F;en eben &#x017F;o wenig eine Vernichtung i&#x017F;t,<lb/>
als der un&#x017F;rige und der Planeten. Dies &#x017F;ind die<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;tze, die wir un&#x017F;rer Jugend einpra&#x0364;gen.<lb/>
Sie i&#x017F;t &#x017F;o fu&#x0364;r das gemeine Wohl eingenommen,<lb/>
daß &#x017F;ie freudig ihr Leben in der Zuver&#x017F;icht hinge-<lb/>
ben wu&#x0364;rde, bald nach Auflo&#x0364;&#x017F;ung des Ko&#x0364;rpers ihr<lb/>
Da&#x017F;ein wieder zu erlangen, und &#x017F;olcherge&#x017F;talt<lb/>
ewig dies &#x017F;cho&#x0364;ne Land zu bewohnen. Mit der<lb/>
gro&#x0364;&#x017F;ten Aufmerk&#x017F;amkeit &#x017F;uchen wir die baldige Auf-<lb/>
lo&#x0364;&#x017F;ung der todten Ko&#x0364;rper zu befo&#x0364;rdern, und wir<lb/>
&#x017F;ehen die ge&#x017F;chwinde&#x017F;te auch fu&#x0364;r die gottesfu&#x0364;rchtig&#x017F;te<lb/>
an, wir verbrennen &#x017F;ie. Die Beerdigung i&#x017F;t die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Y 2</fw><fw place="bottom" type="catch">zweite</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0347] das Gedaͤchtnis und die Vorherſehungskraft uͤber- ſchauen koͤnnen. Dies iſt hinlaͤnglich, uns ange- nehm zu beſchaͤftigen. Das Andenken von beinah un- zaͤhlichen Vergangenheiten wuͤrde unſer Gehirn nur verwirren: es wuͤrde daſſelbe zu ſehr anhaͤufen, und unſere Aufmerkſamkeit auf die gegenwaͤrtigen Dinge ſchwaͤchen. Dies Andenken wuͤrde die Kin- der toͤdten, indem es ſie zu klug machte: es wuͤrde den Haß und die Zwiſtigkeiten bei laſterhaften Voͤl- kern ins unendliche fortſetzen ꝛc. Die weiſe Na- tur hat es nicht haben wollen. Aber die Aehn- lichkeit zeigt, daß wir nichts, als eine Aufloͤſung leiden, und dieſe iſt noͤthig; die Pflanzen loͤſen ſich auf und kommen wieder hervor. Jedes Thier ſchoͤpft ſein Leben aus den naͤmlichen Quellen. Es iſt der naͤmliche Verſtand und die naͤmliche Mate- rie, woraus ſie beſtehen. Es iſt daher ewig, wie ſein Anfang. Er iſt es, trotz des Todes der Planeten und der Sonnen; weil der Tod dieſer groſſen Weſen eben ſo wenig eine Vernichtung iſt, als der unſrige und der Planeten. Dies ſind die Grundſaͤtze, die wir unſrer Jugend einpraͤgen. Sie iſt ſo fuͤr das gemeine Wohl eingenommen, daß ſie freudig ihr Leben in der Zuverſicht hinge- ben wuͤrde, bald nach Aufloͤſung des Koͤrpers ihr Daſein wieder zu erlangen, und ſolchergeſtalt ewig dies ſchoͤne Land zu bewohnen. Mit der groͤſten Aufmerkſamkeit ſuchen wir die baldige Auf- loͤſung der todten Koͤrper zu befoͤrdern, und wir ſehen die geſchwindeſte auch fuͤr die gottesfuͤrchtigſte an, wir verbrennen ſie. Die Beerdigung iſt die zweite Y 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/347
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/347>, abgerufen am 24.11.2024.