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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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sähe. Dies verstärkte das Vergnügen. Als das
Verlangen zum Essen sich einstellte, kehrte man zum
Mittagmahl nach der Grotte zurück. Für Victorin
war dieß das reizendste Mahl. Doch glaube man
nicht, daß Christine beruhigt war; alle Augenblicke
entfielen ihr Thränen; ungeachtet der Aufmerksam-
keit des jungen Mannes, der innigsten Sorgfalt der
Kammerfrau, die vom ersten Tage an ihr aufs zärt-
lichste zugethan war, konnte sie sich nicht trösten,
und die Herannahung des Abends, setzte sie am mei-
sten in Schrecken; aber endlich, als man einleuchtend
genug bewies, wie sicher sie sich einschließen könne,
versprach sie, sich nieder zu legen.

Victorin verband sich vom Kopfe bis auf die
Füsse, gewafnet an der Thüre Wache zu halten; die
Kammerfrau mußte bey ihr schlafen, und die übri-
gen Bewohner des unbesteiglichen Berges besetzten
die Zugänge der Grotte, die schon längst für sie aufs
bequemste eingerichtet war. Alle diese Anstalten be-
ruhigten die furchtsame Christine. Sie ließ Victo-
rin sagen, daß sie ihm nicht erlauben würde, sein Le-
ben oder seine Gesundheit in der Nacht Preis zu ge-
ben, und daß sie ihn bäte, er möchte sich ihrentwe-
gen schonen etc.

Den folgenden Tag dachte Victorin darauf ihr
ein Vergnügen zu machen. Die Arbeit seiner Leute
wollte nicht viel sagen, und wenn einer überhaupt
recht zu Werke geht, bleibt ihm immer Zeit genug
zum Vergnügen. Christine hatte zum Glück die
Stadt noch nicht gesehen, und kannte, ob sie gleich

ein



ſaͤhe. Dies verſtaͤrkte das Vergnuͤgen. Als das
Verlangen zum Eſſen ſich einſtellte, kehrte man zum
Mittagmahl nach der Grotte zuruͤck. Fuͤr Victorin
war dieß das reizendſte Mahl. Doch glaube man
nicht, daß Chriſtine beruhigt war; alle Augenblicke
entfielen ihr Thraͤnen; ungeachtet der Aufmerkſam-
keit des jungen Mannes, der innigſten Sorgfalt der
Kammerfrau, die vom erſten Tage an ihr aufs zaͤrt-
lichſte zugethan war, konnte ſie ſich nicht troͤſten,
und die Herannahung des Abends, ſetzte ſie am mei-
ſten in Schrecken; aber endlich, als man einleuchtend
genug bewies, wie ſicher ſie ſich einſchließen koͤnne,
verſprach ſie, ſich nieder zu legen.

Victorin verband ſich vom Kopfe bis auf die
Fuͤſſe, gewafnet an der Thuͤre Wache zu halten; die
Kammerfrau mußte bey ihr ſchlafen, und die uͤbri-
gen Bewohner des unbeſteiglichen Berges beſetzten
die Zugaͤnge der Grotte, die ſchon laͤngſt fuͤr ſie aufs
bequemſte eingerichtet war. Alle dieſe Anſtalten be-
ruhigten die furchtſame Chriſtine. Sie ließ Victo-
rin ſagen, daß ſie ihm nicht erlauben wuͤrde, ſein Le-
ben oder ſeine Geſundheit in der Nacht Preis zu ge-
ben, und daß ſie ihn baͤte, er moͤchte ſich ihrentwe-
gen ſchonen ꝛc.

Den folgenden Tag dachte Victorin darauf ihr
ein Vergnuͤgen zu machen. Die Arbeit ſeiner Leute
wollte nicht viel ſagen, und wenn einer uͤberhaupt
recht zu Werke geht, bleibt ihm immer Zeit genug
zum Vergnuͤgen. Chriſtine hatte zum Gluͤck die
Stadt noch nicht geſehen, und kannte, ob ſie gleich

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[63/0071] ſaͤhe. Dies verſtaͤrkte das Vergnuͤgen. Als das Verlangen zum Eſſen ſich einſtellte, kehrte man zum Mittagmahl nach der Grotte zuruͤck. Fuͤr Victorin war dieß das reizendſte Mahl. Doch glaube man nicht, daß Chriſtine beruhigt war; alle Augenblicke entfielen ihr Thraͤnen; ungeachtet der Aufmerkſam- keit des jungen Mannes, der innigſten Sorgfalt der Kammerfrau, die vom erſten Tage an ihr aufs zaͤrt- lichſte zugethan war, konnte ſie ſich nicht troͤſten, und die Herannahung des Abends, ſetzte ſie am mei- ſten in Schrecken; aber endlich, als man einleuchtend genug bewies, wie ſicher ſie ſich einſchließen koͤnne, verſprach ſie, ſich nieder zu legen. Victorin verband ſich vom Kopfe bis auf die Fuͤſſe, gewafnet an der Thuͤre Wache zu halten; die Kammerfrau mußte bey ihr ſchlafen, und die uͤbri- gen Bewohner des unbeſteiglichen Berges beſetzten die Zugaͤnge der Grotte, die ſchon laͤngſt fuͤr ſie aufs bequemſte eingerichtet war. Alle dieſe Anſtalten be- ruhigten die furchtſame Chriſtine. Sie ließ Victo- rin ſagen, daß ſie ihm nicht erlauben wuͤrde, ſein Le- ben oder ſeine Geſundheit in der Nacht Preis zu ge- ben, und daß ſie ihn baͤte, er moͤchte ſich ihrentwe- gen ſchonen ꝛc. Den folgenden Tag dachte Victorin darauf ihr ein Vergnuͤgen zu machen. Die Arbeit ſeiner Leute wollte nicht viel ſagen, und wenn einer uͤberhaupt recht zu Werke geht, bleibt ihm immer Zeit genug zum Vergnuͤgen. Chriſtine hatte zum Gluͤck die Stadt noch nicht geſehen, und kannte, ob ſie gleich ein

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/71>, abgerufen am 23.11.2024.