Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



ein Fräulein war, nur die ländlichen Freuden. Es
wurden daher gewisse Stunden zum Spiel und Tanz
ausgesetzt. Und Victorin, der die Violine spie-
len gelernt hatte, war bey diesem Zeitvertreibe die
Hauptperson.

Unbemerkt wurden Christinens Thränen minder
bitter. Jhr Schmerz hatte blos das Gepräge der
Zärtlichkeit, und entstand mehr aus Unruhe wegen
der Gesundheit ihres geliebten Vaters, und von der
gewissen Vermuthung, daß er ihres Verlusts halber
in Verzweifelung sey, als ihres eignen Schicksals
wegen. Angebetet von allem was sie umgab; be-
dient von einem schönen jungen Manne, der ihr
nichts weniger als gleichgültig war, und dem sie ihr
Leben zu verdanken glaubte, wo konnte sie glückli-
cher seyn?

Oft hatte sie Victorin bereits gebeten, sich Mü-
he zu geben, bis zum Hause ihres Vaters zu fliegen;
aber stets verschob er es aus vorgeblicher Furcht vor
dem Großvogel, der vielleicht bloß den Augenblick
seiner Abwesenheit erwartete, um auf den unbesteigli-
chen Berg zu kommen und sie in unbekannte Gegenden
fort zu führen. Diese Ursachen schienen ihr hin-
länglich. Jndeß konnte die zärtliche Christine, nach
sechs Monden, die Unruhe in der sie ihres Vaters
wegen war, nicht länger aushalten, und ward zu-
fehends elender. Victorin, der fast alle Nächte den
unbesteiglichen Berg verließ, um die ihm nothwendi-
gen Sachen zu holen, hatte zwar Nachrichten von
dem guten Herrn, aber er durfte sie ihr nicht sagen.

Einen



ein Fraͤulein war, nur die laͤndlichen Freuden. Es
wurden daher gewiſſe Stunden zum Spiel und Tanz
ausgeſetzt. Und Victorin, der die Violine ſpie-
len gelernt hatte, war bey dieſem Zeitvertreibe die
Hauptperſon.

Unbemerkt wurden Chriſtinens Thraͤnen minder
bitter. Jhr Schmerz hatte blos das Gepraͤge der
Zaͤrtlichkeit, und entſtand mehr aus Unruhe wegen
der Geſundheit ihres geliebten Vaters, und von der
gewiſſen Vermuthung, daß er ihres Verluſts halber
in Verzweifelung ſey, als ihres eignen Schickſals
wegen. Angebetet von allem was ſie umgab; be-
dient von einem ſchoͤnen jungen Manne, der ihr
nichts weniger als gleichguͤltig war, und dem ſie ihr
Leben zu verdanken glaubte, wo konnte ſie gluͤckli-
cher ſeyn?

Oft hatte ſie Victorin bereits gebeten, ſich Muͤ-
he zu geben, bis zum Hauſe ihres Vaters zu fliegen;
aber ſtets verſchob er es aus vorgeblicher Furcht vor
dem Großvogel, der vielleicht bloß den Augenblick
ſeiner Abweſenheit erwartete, um auf den unbeſteigli-
chen Berg zu kommen und ſie in unbekannte Gegenden
fort zu fuͤhren. Dieſe Urſachen ſchienen ihr hin-
laͤnglich. Jndeß konnte die zaͤrtliche Chriſtine, nach
ſechs Monden, die Unruhe in der ſie ihres Vaters
wegen war, nicht laͤnger aushalten, und ward zu-
fehends elender. Victorin, der faſt alle Naͤchte den
unbeſteiglichen Berg verließ, um die ihm nothwendi-
gen Sachen zu holen, hatte zwar Nachrichten von
dem guten Herrn, aber er durfte ſie ihr nicht ſagen.

Einen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0072" n="64"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ein Fra&#x0364;ulein war, nur die la&#x0364;ndlichen Freuden. Es<lb/>
wurden daher gewi&#x017F;&#x017F;e Stunden zum Spiel und Tanz<lb/>
ausge&#x017F;etzt. Und Victorin, der die Violine &#x017F;pie-<lb/>
len gelernt hatte, war bey die&#x017F;em Zeitvertreibe die<lb/>
Hauptper&#x017F;on.</p><lb/>
        <p>Unbemerkt wurden Chri&#x017F;tinens Thra&#x0364;nen minder<lb/>
bitter. Jhr Schmerz hatte blos das Gepra&#x0364;ge der<lb/>
Za&#x0364;rtlichkeit, und ent&#x017F;tand mehr aus Unruhe wegen<lb/>
der Ge&#x017F;undheit ihres geliebten Vaters, und von der<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Vermuthung, daß er ihres Verlu&#x017F;ts halber<lb/>
in Verzweifelung &#x017F;ey, als ihres eignen Schick&#x017F;als<lb/>
wegen. Angebetet von allem was &#x017F;ie umgab; be-<lb/>
dient von einem &#x017F;cho&#x0364;nen jungen Manne, der ihr<lb/>
nichts weniger als gleichgu&#x0364;ltig war, und dem &#x017F;ie ihr<lb/>
Leben zu verdanken glaubte, wo konnte &#x017F;ie glu&#x0364;ckli-<lb/>
cher &#x017F;eyn?</p><lb/>
        <p>Oft hatte &#x017F;ie Victorin bereits gebeten, &#x017F;ich Mu&#x0364;-<lb/>
he zu geben, bis zum Hau&#x017F;e ihres Vaters zu fliegen;<lb/>
aber &#x017F;tets ver&#x017F;chob er es aus vorgeblicher Furcht vor<lb/>
dem Großvogel, der vielleicht bloß den Augenblick<lb/>
&#x017F;einer Abwe&#x017F;enheit erwartete, um auf den unbe&#x017F;teigli-<lb/>
chen Berg zu kommen und &#x017F;ie in unbekannte Gegenden<lb/>
fort zu fu&#x0364;hren. Die&#x017F;e Ur&#x017F;achen &#x017F;chienen ihr hin-<lb/>
la&#x0364;nglich. Jndeß konnte die za&#x0364;rtliche Chri&#x017F;tine, nach<lb/>
&#x017F;echs Monden, die Unruhe in der &#x017F;ie ihres Vaters<lb/>
wegen war, nicht la&#x0364;nger aushalten, und ward zu-<lb/>
fehends elender. Victorin, der fa&#x017F;t alle Na&#x0364;chte den<lb/>
unbe&#x017F;teiglichen Berg verließ, um die ihm nothwendi-<lb/>
gen Sachen zu holen, hatte zwar Nachrichten von<lb/>
dem guten Herrn, aber er durfte &#x017F;ie ihr nicht &#x017F;agen.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Einen</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0072] ein Fraͤulein war, nur die laͤndlichen Freuden. Es wurden daher gewiſſe Stunden zum Spiel und Tanz ausgeſetzt. Und Victorin, der die Violine ſpie- len gelernt hatte, war bey dieſem Zeitvertreibe die Hauptperſon. Unbemerkt wurden Chriſtinens Thraͤnen minder bitter. Jhr Schmerz hatte blos das Gepraͤge der Zaͤrtlichkeit, und entſtand mehr aus Unruhe wegen der Geſundheit ihres geliebten Vaters, und von der gewiſſen Vermuthung, daß er ihres Verluſts halber in Verzweifelung ſey, als ihres eignen Schickſals wegen. Angebetet von allem was ſie umgab; be- dient von einem ſchoͤnen jungen Manne, der ihr nichts weniger als gleichguͤltig war, und dem ſie ihr Leben zu verdanken glaubte, wo konnte ſie gluͤckli- cher ſeyn? Oft hatte ſie Victorin bereits gebeten, ſich Muͤ- he zu geben, bis zum Hauſe ihres Vaters zu fliegen; aber ſtets verſchob er es aus vorgeblicher Furcht vor dem Großvogel, der vielleicht bloß den Augenblick ſeiner Abweſenheit erwartete, um auf den unbeſteigli- chen Berg zu kommen und ſie in unbekannte Gegenden fort zu fuͤhren. Dieſe Urſachen ſchienen ihr hin- laͤnglich. Jndeß konnte die zaͤrtliche Chriſtine, nach ſechs Monden, die Unruhe in der ſie ihres Vaters wegen war, nicht laͤnger aushalten, und ward zu- fehends elender. Victorin, der faſt alle Naͤchte den unbeſteiglichen Berg verließ, um die ihm nothwendi- gen Sachen zu holen, hatte zwar Nachrichten von dem guten Herrn, aber er durfte ſie ihr nicht ſagen. Einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/72
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/72>, abgerufen am 23.11.2024.