Victorin lag auf seinen Knien, Thränen der Zärtlichkeit überschwemmeten seine Wangen; voll Entzücken küßt' er Christinens Hand. Dann stand er, ihren Befehlen zu Folge auf, und wagt' einen Kuß. Nachdem er dieses erste Unterpfand seines Glücks halb bekommen, halb geraubt hatte, eilt er zum Priester, und man bereitete alles nöthige zur Vermählung der Beherrscherin. Ein mit Blumen bestreuter Fels diente statt des Altars. Der Geistli- che machte aus dem, was man ihm gab, so gut als er konnte, eine priesterliche Kleidung zu rechte, brach- te das Opfer dar, das er selbst besorgt hatte, und Vic- torin ward endlich mit der schönen Christine, der Toch- ter seines Herrn, die er so lange, und mit solcher Ver- ehrung und Zärtlichkeit geliebt hatte, vermählt.
Alles ward mit solcher Eil ins Werk gerichtet, daß Christinen erst nachher der sehr natürliche Gedan- ke einfiel, daß es nöthig gewesen sey, ihrem Vater Nachricht davon zu geben, und seine Einwilligung zu erwarten; aber ihr Gemahl suchte diese Besorg- niß durch das Feuer seiner Zärtlichkeiten zu unterdrü- cken; und um ihr einen Beweis zu geben, daß die Ehe seine Aufmersamkeit gegen seine Gemahlinn nicht vermindert habe, holt' er die zweyte Nacht drauf die Antwort von Christinens Vater.
Er näherte sich mit vieler Vorsicht und that Recht dran. Denn braucht er deren weniger; so war es um ihn und sein schöne Christine mit ihm ge- schehn; denn niemals würde sie von dem unbesteigli- chen Berge hinunter gekommen seyn, und dessen Be-
woh-
Victorin lag auf ſeinen Knien, Thraͤnen der Zaͤrtlichkeit uͤberſchwemmeten ſeine Wangen; voll Entzuͤcken kuͤßt’ er Chriſtinens Hand. Dann ſtand er, ihren Befehlen zu Folge auf, und wagt’ einen Kuß. Nachdem er dieſes erſte Unterpfand ſeines Gluͤcks halb bekommen, halb geraubt hatte, eilt er zum Prieſter, und man bereitete alles noͤthige zur Vermaͤhlung der Beherrſcherin. Ein mit Blumen beſtreuter Fels diente ſtatt des Altars. Der Geiſtli- che machte aus dem, was man ihm gab, ſo gut als er konnte, eine prieſterliche Kleidung zu rechte, brach- te das Opfer dar, das er ſelbſt beſorgt hatte, und Vic- torin ward endlich mit der ſchoͤnen Chriſtine, der Toch- ter ſeines Herrn, die er ſo lange, und mit ſolcher Ver- ehrung und Zaͤrtlichkeit geliebt hatte, vermaͤhlt.
Alles ward mit ſolcher Eil ins Werk gerichtet, daß Chriſtinen erſt nachher der ſehr natuͤrliche Gedan- ke einfiel, daß es noͤthig geweſen ſey, ihrem Vater Nachricht davon zu geben, und ſeine Einwilligung zu erwarten; aber ihr Gemahl ſuchte dieſe Beſorg- niß durch das Feuer ſeiner Zaͤrtlichkeiten zu unterdruͤ- cken; und um ihr einen Beweis zu geben, daß die Ehe ſeine Aufmerſamkeit gegen ſeine Gemahlinn nicht vermindert habe, holt’ er die zweyte Nacht drauf die Antwort von Chriſtinens Vater.
Er naͤherte ſich mit vieler Vorſicht und that Recht dran. Denn braucht er deren weniger; ſo war es um ihn und ſein ſchoͤne Chriſtine mit ihm ge- ſchehn; denn niemals wuͤrde ſie von dem unbeſteigli- chen Berge hinunter gekommen ſeyn, und deſſen Be-
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[76/0084]
Victorin lag auf ſeinen Knien, Thraͤnen der
Zaͤrtlichkeit uͤberſchwemmeten ſeine Wangen; voll
Entzuͤcken kuͤßt’ er Chriſtinens Hand. Dann ſtand
er, ihren Befehlen zu Folge auf, und wagt’ einen
Kuß. Nachdem er dieſes erſte Unterpfand ſeines
Gluͤcks halb bekommen, halb geraubt hatte, eilt er
zum Prieſter, und man bereitete alles noͤthige zur
Vermaͤhlung der Beherrſcherin. Ein mit Blumen
beſtreuter Fels diente ſtatt des Altars. Der Geiſtli-
che machte aus dem, was man ihm gab, ſo gut als
er konnte, eine prieſterliche Kleidung zu rechte, brach-
te das Opfer dar, das er ſelbſt beſorgt hatte, und Vic-
torin ward endlich mit der ſchoͤnen Chriſtine, der Toch-
ter ſeines Herrn, die er ſo lange, und mit ſolcher Ver-
ehrung und Zaͤrtlichkeit geliebt hatte, vermaͤhlt.
Alles ward mit ſolcher Eil ins Werk gerichtet,
daß Chriſtinen erſt nachher der ſehr natuͤrliche Gedan-
ke einfiel, daß es noͤthig geweſen ſey, ihrem Vater
Nachricht davon zu geben, und ſeine Einwilligung
zu erwarten; aber ihr Gemahl ſuchte dieſe Beſorg-
niß durch das Feuer ſeiner Zaͤrtlichkeiten zu unterdruͤ-
cken; und um ihr einen Beweis zu geben, daß die
Ehe ſeine Aufmerſamkeit gegen ſeine Gemahlinn nicht
vermindert habe, holt’ er die zweyte Nacht drauf die
Antwort von Chriſtinens Vater.
Er naͤherte ſich mit vieler Vorſicht und that
Recht dran. Denn braucht er deren weniger; ſo war
es um ihn und ſein ſchoͤne Chriſtine mit ihm ge-
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/84>, abgerufen am 23.11.2024.
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