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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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"Was hast du mir denn zu sagen, mein Freund?"

"Daß meine Liebe an allem Schuld ist, daß sie
allein mich die Flügel, mit denen ich fliege, erfinden
lehrte, daß das Verlangen nach deinem Besitze, der
einzige Beweggrund waren; daß es keinen Großvogel
giebt; daß ich es war, der dich entführte ... Jetzt
wissen sie alles, anbetungswürdige Christine, hassen
sie in mir, wenn sie können, den Vater dieser werthen
Kinder! -- Er sprachs und warf sich zu ihren Füßen."

"Nein lieber Gemahl! nein, ich werde ihn nie
hassen! aber wohl noch heftiger lieben ... Ach! wie
viel entdeck' ich in diesem Augenblick! .... Du al-
so brachtest alle die Personen, die ich hier sehe, hie-
her, um mir ein kleines Reich zu errichten, um mich
zu ihrer Beherrscherin zu machen .... Welche
Liebe glich je der deinigen! ... Aber bester Gemahl,
thatest du wohl daran mit deinem jetzigen Geständ-
niß die Zeit zu erwarten, wo Beständigkeit und Lau-
terkeit mir deine Gesinnungen bewährt hatten, o!
wie schmeichelhaft ist es, nicht zweifeln zu dürfen,
daß man um sein selbstwillen geliebt wird, und daß
man nicht blos eine leichtsinnige und flüchtige Begier-
de entzündet habe! ... Kommt, meine lieben Kinder!
euer Vater war mir theuer bereits, aber heut ist er
mir es mehr als jemals geworden; um seinetwillen
lieb' ich euch weit stärker, und ihr seyd die Ursach
meiner verdoppelten Liebe gegen ihn."

Nach diesem zärtlichen Erguß ihres Herzens ließ
sich die nunmehr beruhigte Christine von ihrem Ge-
mahl alle Umstände seines Benehmens erzählen. Er

war
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„Was haſt du mir denn zu ſagen, mein Freund?‟

„Daß meine Liebe an allem Schuld iſt, daß ſie
allein mich die Fluͤgel, mit denen ich fliege, erfinden
lehrte, daß das Verlangen nach deinem Beſitze, der
einzige Beweggrund waren; daß es keinen Großvogel
giebt; daß ich es war, der dich entfuͤhrte … Jetzt
wiſſen ſie alles, anbetungswuͤrdige Chriſtine, haſſen
ſie in mir, wenn ſie koͤnnen, den Vater dieſer werthen
Kinder! — Er ſprachs und warf ſich zu ihren Fuͤßen.‟

„Nein lieber Gemahl! nein, ich werde ihn nie
haſſen! aber wohl noch heftiger lieben … Ach! wie
viel entdeck’ ich in dieſem Augenblick! …. Du al-
ſo brachteſt alle die Perſonen, die ich hier ſehe, hie-
her, um mir ein kleines Reich zu errichten, um mich
zu ihrer Beherrſcherin zu machen …. Welche
Liebe glich je der deinigen! … Aber beſter Gemahl,
thateſt du wohl daran mit deinem jetzigen Geſtaͤnd-
niß die Zeit zu erwarten, wo Beſtaͤndigkeit und Lau-
terkeit mir deine Geſinnungen bewaͤhrt hatten, o!
wie ſchmeichelhaft iſt es, nicht zweifeln zu duͤrfen,
daß man um ſein ſelbſtwillen geliebt wird, und daß
man nicht blos eine leichtſinnige und fluͤchtige Begier-
de entzuͤndet habe! … Kommt, meine lieben Kinder!
euer Vater war mir theuer bereits, aber heut iſt er
mir es mehr als jemals geworden; um ſeinetwillen
lieb’ ich euch weit ſtaͤrker, und ihr ſeyd die Urſach
meiner verdoppelten Liebe gegen ihn.‟

Nach dieſem zaͤrtlichen Erguß ihres Herzens ließ
ſich die nunmehr beruhigte Chriſtine von ihrem Ge-
mahl alle Umſtaͤnde ſeines Benehmens erzaͤhlen. Er

war
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[83/0091] „Was haſt du mir denn zu ſagen, mein Freund?‟ „Daß meine Liebe an allem Schuld iſt, daß ſie allein mich die Fluͤgel, mit denen ich fliege, erfinden lehrte, daß das Verlangen nach deinem Beſitze, der einzige Beweggrund waren; daß es keinen Großvogel giebt; daß ich es war, der dich entfuͤhrte … Jetzt wiſſen ſie alles, anbetungswuͤrdige Chriſtine, haſſen ſie in mir, wenn ſie koͤnnen, den Vater dieſer werthen Kinder! — Er ſprachs und warf ſich zu ihren Fuͤßen.‟ „Nein lieber Gemahl! nein, ich werde ihn nie haſſen! aber wohl noch heftiger lieben … Ach! wie viel entdeck’ ich in dieſem Augenblick! …. Du al- ſo brachteſt alle die Perſonen, die ich hier ſehe, hie- her, um mir ein kleines Reich zu errichten, um mich zu ihrer Beherrſcherin zu machen …. Welche Liebe glich je der deinigen! … Aber beſter Gemahl, thateſt du wohl daran mit deinem jetzigen Geſtaͤnd- niß die Zeit zu erwarten, wo Beſtaͤndigkeit und Lau- terkeit mir deine Geſinnungen bewaͤhrt hatten, o! wie ſchmeichelhaft iſt es, nicht zweifeln zu duͤrfen, daß man um ſein ſelbſtwillen geliebt wird, und daß man nicht blos eine leichtſinnige und fluͤchtige Begier- de entzuͤndet habe! … Kommt, meine lieben Kinder! euer Vater war mir theuer bereits, aber heut iſt er mir es mehr als jemals geworden; um ſeinetwillen lieb’ ich euch weit ſtaͤrker, und ihr ſeyd die Urſach meiner verdoppelten Liebe gegen ihn.‟ Nach dieſem zaͤrtlichen Erguß ihres Herzens ließ ſich die nunmehr beruhigte Chriſtine von ihrem Ge- mahl alle Umſtaͤnde ſeines Benehmens erzaͤhlen. Er war F 2

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/91>, abgerufen am 23.11.2024.