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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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übrigen tugendhaft machen wollt, wie oft verdientet
ihr unsre ganze Verachtung! ...

Uebrigens ist die Tugend auf dem unbesteiglichen
Berge sehr natürlich; denn ich wiederhole es, eine
jede kleine Gesellschaft, in welcher die einzelnen
Glieder einander alle gleich sind, alle einander kennen,
und einer den andern nöthig hat, muß nothwendig
glücklich und tugendhaft seyn. Dies ist der Knoten,
von dem ich nicht weiß, ob ihn ein Sittenlehrer ge-
funden hat.

Victorins Abreise hieng ganz von Christinen ab:
sie brannte vor Begierde ihren lieben Gemahl berühmt
zu sehn, aber sie zitterte vor dem bloßen Gedanken sich
von ihm zu trennen. Tausend schaudervolle Gefah-
ren stellten sich ihrer furchtsamen Einbildung dar; da-
her hielt sie ihn noch immer zurück. Auf der andern
Seit eilte der zärtliche Victorin gar nicht so sehr mit
einer Trennung von einer angebeteten Gemahlin; er
suchte daher ihre Besorgniße nur oben hin zu widerle-
gen und begnügte sich damit, ihr stets seine Bereitwil-
ligkeit zu Befolgung ihrer Wünsche bemerklicher zu
machen; verschafte aber indessen seinem kleinen Staate
immer neue Wonne und neue Glückseligkeit.

Hierzu hatt' er Zeit genug; denn es vergiengen
zehn Jahr nach dieser vertraulichen Eröfnung, und
also sechszehn Jahr nach der Vermählung und wenig-
stens siebzehn seit dem Aufenthalt auf dem unbesteigli-
chen Berge und noch hatt' er keinen Schritt zu seinem
Berühmtwerden gethan. Man sahe nunmehr die
reizende Jugend beyderley Geschlechts auf diesem glück-

lichen
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uͤbrigen tugendhaft machen wollt, wie oft verdientet
ihr unſre ganze Verachtung! …

Uebrigens iſt die Tugend auf dem unbeſteiglichen
Berge ſehr natuͤrlich; denn ich wiederhole es, eine
jede kleine Geſellſchaft, in welcher die einzelnen
Glieder einander alle gleich ſind, alle einander kennen,
und einer den andern noͤthig hat, muß nothwendig
gluͤcklich und tugendhaft ſeyn. Dies iſt der Knoten,
von dem ich nicht weiß, ob ihn ein Sittenlehrer ge-
funden hat.

Victorins Abreiſe hieng ganz von Chriſtinen ab:
ſie brannte vor Begierde ihren lieben Gemahl beruͤhmt
zu ſehn, aber ſie zitterte vor dem bloßen Gedanken ſich
von ihm zu trennen. Tauſend ſchaudervolle Gefah-
ren ſtellten ſich ihrer furchtſamen Einbildung dar; da-
her hielt ſie ihn noch immer zuruͤck. Auf der andern
Seit eilte der zaͤrtliche Victorin gar nicht ſo ſehr mit
einer Trennung von einer angebeteten Gemahlin; er
ſuchte daher ihre Beſorgniße nur oben hin zu widerle-
gen und begnuͤgte ſich damit, ihr ſtets ſeine Bereitwil-
ligkeit zu Befolgung ihrer Wuͤnſche bemerklicher zu
machen; verſchafte aber indeſſen ſeinem kleinen Staate
immer neue Wonne und neue Gluͤckſeligkeit.

Hierzu hatt’ er Zeit genug; denn es vergiengen
zehn Jahr nach dieſer vertraulichen Eroͤfnung, und
alſo ſechszehn Jahr nach der Vermaͤhlung und wenig-
ſtens ſiebzehn ſeit dem Aufenthalt auf dem unbeſteigli-
chen Berge und noch hatt’ er keinen Schritt zu ſeinem
Beruͤhmtwerden gethan. Man ſahe nunmehr die
reizende Jugend beyderley Geſchlechts auf dieſem gluͤck-

lichen
F 4
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[87/0095] uͤbrigen tugendhaft machen wollt, wie oft verdientet ihr unſre ganze Verachtung! … Uebrigens iſt die Tugend auf dem unbeſteiglichen Berge ſehr natuͤrlich; denn ich wiederhole es, eine jede kleine Geſellſchaft, in welcher die einzelnen Glieder einander alle gleich ſind, alle einander kennen, und einer den andern noͤthig hat, muß nothwendig gluͤcklich und tugendhaft ſeyn. Dies iſt der Knoten, von dem ich nicht weiß, ob ihn ein Sittenlehrer ge- funden hat. Victorins Abreiſe hieng ganz von Chriſtinen ab: ſie brannte vor Begierde ihren lieben Gemahl beruͤhmt zu ſehn, aber ſie zitterte vor dem bloßen Gedanken ſich von ihm zu trennen. Tauſend ſchaudervolle Gefah- ren ſtellten ſich ihrer furchtſamen Einbildung dar; da- her hielt ſie ihn noch immer zuruͤck. Auf der andern Seit eilte der zaͤrtliche Victorin gar nicht ſo ſehr mit einer Trennung von einer angebeteten Gemahlin; er ſuchte daher ihre Beſorgniße nur oben hin zu widerle- gen und begnuͤgte ſich damit, ihr ſtets ſeine Bereitwil- ligkeit zu Befolgung ihrer Wuͤnſche bemerklicher zu machen; verſchafte aber indeſſen ſeinem kleinen Staate immer neue Wonne und neue Gluͤckſeligkeit. Hierzu hatt’ er Zeit genug; denn es vergiengen zehn Jahr nach dieſer vertraulichen Eroͤfnung, und alſo ſechszehn Jahr nach der Vermaͤhlung und wenig- ſtens ſiebzehn ſeit dem Aufenthalt auf dem unbeſteigli- chen Berge und noch hatt’ er keinen Schritt zu ſeinem Beruͤhmtwerden gethan. Man ſahe nunmehr die reizende Jugend beyderley Geſchlechts auf dieſem gluͤck- lichen F 4

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/95>, abgerufen am 23.11.2024.