habe mich bequemet keinen Besuch anzunehmen, noch zu geben; Aber von dem Brief-Wechsel mit Jhnen kan mich nichts abhalten, als blos die Furcht, daß meine Briefe aufgefangen werden mögten.
Sie glaubt daß mein Vater diesen Befehl oh- ne meine Mutter zu befragen gegeben habe, und zwar blos aus Liebe gegen mich, damit ich nicht eine Todsünde gegen ihn begehen möchte. Denn er befürchtete daß mich andere Leute (das sind Sie, und Früulein Lloyd) hiezu verführen mögten, und daß ich es von selbst nicht thun wer- de. Denn er spricht noch sehr wohl von mir, und lobet mich, wie sie saget, ungemein.
Das ist Gnade! das ist väterliche Nachsicht! So muß man es anfangen, wenn man nach Art eines Königes, der übelgesinnete Unterthanen von einem Aufruhr abhalten will, wodurch sie sich aller ihrer Güter verlustig machen würden, ein hart- näckiges Kind vor Ungehorsam und Verderben zu bewahren sucht. Dis ist die Weisheit meines jungen Herrn Bruders; eines Betriegers ohne Kopf, und eines Bruders ohne Hertz.
Wie glücklich hätte ich mit irgend einem andern Bruder als Jacob Harlowe leben können? Und wie glücklich mit irgend einer andern Schwe- ster, als mit seiner. Verwundrrn sie sich nicht hierüber mein Schatz, daß ich jetzt mehr meine Schuldigkeit, als Sie sonst die Liebe in der Beurtheilung meiner Geschwister aus den Augen setze, da ich Jhnen so oft eine Straf-Predigt
gehal-
F 2
der Clariſſa.
habe mich bequemet keinen Beſuch anzunehmen, noch zu geben; Aber von dem Brief-Wechſel mit Jhnen kan mich nichts abhalten, als blos die Furcht, daß meine Briefe aufgefangen werden moͤgten.
Sie glaubt daß mein Vater dieſen Befehl oh- ne meine Mutter zu befragen gegeben habe, und zwar blos aus Liebe gegen mich, damit ich nicht eine Todſuͤnde gegen ihn begehen moͤchte. Denn er befuͤrchtete daß mich andere Leute (das ſind Sie, und Fruͤulein Lloyd) hiezu verfuͤhren moͤgten, und daß ich es von ſelbſt nicht thun wer- de. Denn er ſpricht noch ſehr wohl von mir, und lobet mich, wie ſie ſaget, ungemein.
Das iſt Gnade! das iſt vaͤterliche Nachſicht! So muß man es anfangen, wenn man nach Art eines Koͤniges, der uͤbelgeſinnete Unterthanen von einem Aufruhr abhalten will, wodurch ſie ſich aller ihrer Guͤter verluſtig machen wuͤrden, ein hart- naͤckiges Kind vor Ungehorſam und Verderben zu bewahren ſucht. Dis iſt die Weisheit meines jungen Herrn Bruders; eines Betriegers ohne Kopf, und eines Bruders ohne Hertz.
Wie gluͤcklich haͤtte ich mit irgend einem andern Bruder als Jacob Harlowe leben koͤnnen? Und wie gluͤcklich mit irgend einer andern Schwe- ſter, als mit ſeiner. Verwundrrn ſie ſich nicht hieruͤber mein Schatz, daß ich jetzt mehr meine Schuldigkeit, als Sie ſonſt die Liebe in der Beurtheilung meiner Geſchwiſter aus den Augen ſetze, da ich Jhnen ſo oft eine Straf-Predigt
gehal-
F 2
<TEI><text><body><divn="2"><p><pbfacs="#f0103"n="83"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa.</hi></hi></fw><lb/>
habe mich bequemet keinen Beſuch anzunehmen,<lb/>
noch zu geben; Aber von dem Brief-Wechſel mit<lb/>
Jhnen kan mich nichts abhalten, als blos die<lb/>
Furcht, daß meine Briefe aufgefangen werden<lb/>
moͤgten.</p><lb/><p>Sie glaubt daß mein Vater dieſen Befehl oh-<lb/>
ne meine Mutter zu befragen gegeben habe, und<lb/>
zwar blos aus Liebe gegen mich, damit ich nicht<lb/>
eine Todſuͤnde gegen ihn begehen moͤchte. Denn<lb/>
er befuͤrchtete daß mich <hirendition="#fr">andere</hi> Leute (das ſind<lb/>
Sie, und Fruͤulein <hirendition="#fr">Lloyd</hi>) hiezu verfuͤhren<lb/>
moͤgten, und daß ich es von ſelbſt nicht thun wer-<lb/>
de. Denn er ſpricht noch ſehr wohl von mir, und<lb/>
lobet mich, wie ſie ſaget, ungemein.</p><lb/><p>Das iſt Gnade! das iſt vaͤterliche Nachſicht!<lb/>
So muß man es anfangen, wenn man nach Art<lb/>
eines Koͤniges, der uͤbelgeſinnete Unterthanen von<lb/>
einem Aufruhr abhalten will, wodurch ſie ſich aller<lb/>
ihrer Guͤter verluſtig machen wuͤrden, ein hart-<lb/>
naͤckiges Kind vor Ungehorſam und Verderben zu<lb/>
bewahren ſucht. Dis iſt die Weisheit meines<lb/>
jungen Herrn Bruders; eines Betriegers ohne<lb/>
Kopf, und eines Bruders ohne Hertz.</p><lb/><p>Wie gluͤcklich haͤtte ich mit irgend einem andern<lb/>
Bruder als <hirendition="#fr">Jacob Harlowe</hi> leben koͤnnen?<lb/>
Und wie gluͤcklich mit irgend einer andern Schwe-<lb/>ſter, als mit <hirendition="#fr">ſeiner.</hi> Verwundrrn ſie ſich nicht<lb/>
hieruͤber mein Schatz, daß ich jetzt mehr meine<lb/>
Schuldigkeit, als Sie ſonſt die Liebe in der<lb/>
Beurtheilung meiner Geſchwiſter aus den Augen<lb/>ſetze, da ich Jhnen ſo oft eine Straf-Predigt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">gehal-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[83/0103]
der Clariſſa.
habe mich bequemet keinen Beſuch anzunehmen,
noch zu geben; Aber von dem Brief-Wechſel mit
Jhnen kan mich nichts abhalten, als blos die
Furcht, daß meine Briefe aufgefangen werden
moͤgten.
Sie glaubt daß mein Vater dieſen Befehl oh-
ne meine Mutter zu befragen gegeben habe, und
zwar blos aus Liebe gegen mich, damit ich nicht
eine Todſuͤnde gegen ihn begehen moͤchte. Denn
er befuͤrchtete daß mich andere Leute (das ſind
Sie, und Fruͤulein Lloyd) hiezu verfuͤhren
moͤgten, und daß ich es von ſelbſt nicht thun wer-
de. Denn er ſpricht noch ſehr wohl von mir, und
lobet mich, wie ſie ſaget, ungemein.
Das iſt Gnade! das iſt vaͤterliche Nachſicht!
So muß man es anfangen, wenn man nach Art
eines Koͤniges, der uͤbelgeſinnete Unterthanen von
einem Aufruhr abhalten will, wodurch ſie ſich aller
ihrer Guͤter verluſtig machen wuͤrden, ein hart-
naͤckiges Kind vor Ungehorſam und Verderben zu
bewahren ſucht. Dis iſt die Weisheit meines
jungen Herrn Bruders; eines Betriegers ohne
Kopf, und eines Bruders ohne Hertz.
Wie gluͤcklich haͤtte ich mit irgend einem andern
Bruder als Jacob Harlowe leben koͤnnen?
Und wie gluͤcklich mit irgend einer andern Schwe-
ſter, als mit ſeiner. Verwundrrn ſie ſich nicht
hieruͤber mein Schatz, daß ich jetzt mehr meine
Schuldigkeit, als Sie ſonſt die Liebe in der
Beurtheilung meiner Geſchwiſter aus den Augen
ſetze, da ich Jhnen ſo oft eine Straf-Predigt
gehal-
F 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/103>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.