Der funfzehnte Brief von Fräulein Howe an Fräulein Clarissa Harlowe.
Freytags den 3. Märtz.
Jch habe Jhre beyden Briefe zugleich erhalten[.] Es ist ein Unglück, daß da Sie nach dem Willen der Jhrigen sich schlechterdings verändern sollen, ein verächtlicher Mensch nach dem andern sich untersteht, um ein so schätzbares Kleinod an- zuhalten. Man kann diese Leute durch nichts anders als durch ihre Unverschämtheit und Eigen- liebe entschuldigen. Daß aber diese unverschämten Leute Jhren Anverwandten viel erträglicher schei- nen als andern Leuten, kommt daher, weil sie Fehler an sich haben, die jenen etwas weniger anstößig sind. Und auch hievon kan man die Ursache erra- then. Soll ich sie Jhnen nennen? Die Jhrigen fin- den etwas ähnliches von sich an diesen Leuten. Vielleicht muß ich auch hier der Demuth Jhrer Geschwister und Onkles nicht vergessen, denn wie können sie glauben daß ihre Schwester oder ihres Bruders Tochter ein Engel sey? Jch mag mich nicht deutlicher ausdrucken, um Sie nicht böse zu machen. Wo wird sonst wol eine Manns-Per- son, bey welcher die Eigenliebe noch nicht alles nöthige Mißtrauen gegen sich selbst ausgelöschet hat, sich unterstehen können, auf Fräulein Cla- rissa Harlowe zu hoffen? Höchstens wird einer kühn genug seyn, seine Wünsche auf Sie zu rich-
ten.
der Clariſſa.
Der funfzehnte Brief von Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa Harlowe.
Freytags den 3. Maͤrtz.
Jch habe Jhre beyden Briefe zugleich erhalten[.] Es iſt ein Ungluͤck, daß da Sie nach dem Willen der Jhrigen ſich ſchlechterdings veraͤndern ſollen, ein veraͤchtlicher Menſch nach dem andern ſich unterſteht, um ein ſo ſchaͤtzbares Kleinod an- zuhalten. Man kann dieſe Leute durch nichts anders als durch ihre Unverſchaͤmtheit und Eigen- liebe entſchuldigen. Daß aber dieſe unverſchaͤmten Leute Jhren Anverwandten viel ertraͤglicher ſchei- nen als andern Leuten, kom̃t daher, weil ſie Fehler an ſich haben, die jenen etwas weniger anſtoͤßig ſind. Und auch hievon kan man die Urſache erra- then. Soll ich ſie Jhnen nennen? Die Jhrigen fin- den etwas aͤhnliches von ſich an dieſen Leuten. Vielleicht muß ich auch hier der Demuth Jhrer Geſchwiſter und Onkles nicht vergeſſen, denn wie koͤnnen ſie glauben daß ihre Schweſter oder ihres Bruders Tochter ein Engel ſey? Jch mag mich nicht deutlicher ausdrucken, um Sie nicht boͤſe zu machen. Wo wird ſonſt wol eine Manns-Per- ſon, bey welcher die Eigenliebe noch nicht alles noͤthige Mißtrauen gegen ſich ſelbſt ausgeloͤſchet hat, ſich unterſtehen koͤnnen, auf Fraͤulein Cla- riſſa Harlowe zu hoffen? Hoͤchſtens wird einer kuͤhn genug ſeyn, ſeine Wuͤnſche auf Sie zu rich-
ten.
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der Clariſſa.
Der funfzehnte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.
Freytags den 3. Maͤrtz.
Jch habe Jhre beyden Briefe zugleich erhalten.
Es iſt ein Ungluͤck, daß da Sie nach dem
Willen der Jhrigen ſich ſchlechterdings veraͤndern
ſollen, ein veraͤchtlicher Menſch nach dem andern
ſich unterſteht, um ein ſo ſchaͤtzbares Kleinod an-
zuhalten. Man kann dieſe Leute durch nichts
anders als durch ihre Unverſchaͤmtheit und Eigen-
liebe entſchuldigen. Daß aber dieſe unverſchaͤmten
Leute Jhren Anverwandten viel ertraͤglicher ſchei-
nen als andern Leuten, kom̃t daher, weil ſie Fehler
an ſich haben, die jenen etwas weniger anſtoͤßig
ſind. Und auch hievon kan man die Urſache erra-
then. Soll ich ſie Jhnen nennen? Die Jhrigen fin-
den etwas aͤhnliches von ſich an dieſen Leuten.
Vielleicht muß ich auch hier der Demuth Jhrer
Geſchwiſter und Onkles nicht vergeſſen, denn wie
koͤnnen ſie glauben daß ihre Schweſter oder ihres
Bruders Tochter ein Engel ſey? Jch mag mich
nicht deutlicher ausdrucken, um Sie nicht boͤſe
zu machen. Wo wird ſonſt wol eine Manns-Per-
ſon, bey welcher die Eigenliebe noch nicht alles
noͤthige Mißtrauen gegen ſich ſelbſt ausgeloͤſchet
hat, ſich unterſtehen koͤnnen, auf Fraͤulein Cla-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/163>, abgerufen am 27.11.2024.
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