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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
ging hierauf hinunter, und versprach gütigst mich
zu entschuldigen, wenn ich von dem Abend-Essen
weg bliebe. Jch ergriff so gleich die Feder, diese
Nachrichten für Sie aufzuzeichnen.

Wie quälend ist es, wenn man sich dem Wil-
len einer solchen Mutter widersetzen muß? Jch
dencke oft bey mir selbst: warum ist doch eben so
ein Mann als Solmes auf mich gefallen, und
warum will er nicht von mir ablassen? er, der ein-
tzige Mann in der Welt, der so viel anbieten und
so wenig verdienen konnte?

Jn der That, er verdient recht wenig: in sei-
ner Gemüths-Beschaffenheit ist nichts, das ihm
Ehre bringt. Er ist wegen seiner Knickerey in
aller Leute Munde. Seine Niederträchtigkeit
ist nicht blos ein Laster, sondern ein unbegreiflicher
Unverstand: denn wenn er es klug anfinge, so wür-
de es ihn jährlich nicht mehr als funfzig Pfund
mehr kosten, anstatt dessen, daß ihn ein jeder für
karg und gemein halt, den Ruhm der Freygebig-
keit zu erlangen. Jhnen kostet eine allgemeine gute
Nachrede viel weniger: und er könnte sich deswe-
gen mit geringen Unkosten desto beliebter machen,
weil er von einem solchen Geitzhals, als der
Ritter Oliver war, sein erstaunliches Vermögen
geerbt hat. Allein seine Aufführung macht, daß
der Mund aller Leute das Sprichwort auf ihn
deutet: So lange Solmes lebet/ ist Oliver
nicht todt.

Man sagt zwar die Welt rede gern von Leuten
übel. Allein ich finde, daß das Urtheil der Welt

richtiger

Die Geſchichte
ging hierauf hinunter, und verſprach guͤtigſt mich
zu entſchuldigen, wenn ich von dem Abend-Eſſen
weg bliebe. Jch ergriff ſo gleich die Feder, dieſe
Nachrichten fuͤr Sie aufzuzeichnen.

Wie quaͤlend iſt es, wenn man ſich dem Wil-
len einer ſolchen Mutter widerſetzen muß? Jch
dencke oft bey mir ſelbſt: warum iſt doch eben ſo
ein Mann als Solmes auf mich gefallen, und
warum will er nicht von mir ablaſſen? er, der ein-
tzige Mann in der Welt, der ſo viel anbieten und
ſo wenig verdienen konnte?

Jn der That, er verdient recht wenig: in ſei-
ner Gemuͤths-Beſchaffenheit iſt nichts, das ihm
Ehre bringt. Er iſt wegen ſeiner Knickerey in
aller Leute Munde. Seine Niedertraͤchtigkeit
iſt nicht blos ein Laſter, ſondern ein unbegreiflicher
Unverſtand: denn wenn er es klug anfinge, ſo wuͤr-
de es ihn jaͤhrlich nicht mehr als funfzig Pfund
mehr koſten, anſtatt deſſen, daß ihn ein jeder fuͤr
karg und gemein halt, den Ruhm der Freygebig-
keit zu erlangen. Jhnen koſtet eine allgemeine gute
Nachrede viel weniger: und er koͤnnte ſich deswe-
gen mit geringen Unkoſten deſto beliebter machen,
weil er von einem ſolchen Geitzhals, als der
Ritter Oliver war, ſein erſtaunliches Vermoͤgen
geerbt hat. Allein ſeine Auffuͤhrung macht, daß
der Mund aller Leute das Sprichwort auf ihn
deutet: So lange Solmes lebet/ iſt Oliver
nicht todt.

Man ſagt zwar die Welt rede gern von Leuten
uͤbel. Allein ich finde, daß das Urtheil der Welt

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[198/0218] Die Geſchichte ging hierauf hinunter, und verſprach guͤtigſt mich zu entſchuldigen, wenn ich von dem Abend-Eſſen weg bliebe. Jch ergriff ſo gleich die Feder, dieſe Nachrichten fuͤr Sie aufzuzeichnen. Wie quaͤlend iſt es, wenn man ſich dem Wil- len einer ſolchen Mutter widerſetzen muß? Jch dencke oft bey mir ſelbſt: warum iſt doch eben ſo ein Mann als Solmes auf mich gefallen, und warum will er nicht von mir ablaſſen? er, der ein- tzige Mann in der Welt, der ſo viel anbieten und ſo wenig verdienen konnte? Jn der That, er verdient recht wenig: in ſei- ner Gemuͤths-Beſchaffenheit iſt nichts, das ihm Ehre bringt. Er iſt wegen ſeiner Knickerey in aller Leute Munde. Seine Niedertraͤchtigkeit iſt nicht blos ein Laſter, ſondern ein unbegreiflicher Unverſtand: denn wenn er es klug anfinge, ſo wuͤr- de es ihn jaͤhrlich nicht mehr als funfzig Pfund mehr koſten, anſtatt deſſen, daß ihn ein jeder fuͤr karg und gemein halt, den Ruhm der Freygebig- keit zu erlangen. Jhnen koſtet eine allgemeine gute Nachrede viel weniger: und er koͤnnte ſich deswe- gen mit geringen Unkoſten deſto beliebter machen, weil er von einem ſolchen Geitzhals, als der Ritter Oliver war, ſein erſtaunliches Vermoͤgen geerbt hat. Allein ſeine Auffuͤhrung macht, daß der Mund aller Leute das Sprichwort auf ihn deutet: So lange Solmes lebet/ iſt Oliver nicht todt. Man ſagt zwar die Welt rede gern von Leuten uͤbel. Allein ich finde, daß das Urtheil der Welt richtiger

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/218>, abgerufen am 24.11.2024.