richtiger ist als man denckt: denn die Welt ur- theilt nach dem Gefühl, und die, welche sich am meisten über die Tadelsuch der Welt beschweren, möchten lieber in sich als ausser sich die Ursache aufsuchen, warum sie getadelt werden.
Das Hertz ist mir leichter geworden, weil ich sahe, daß meine Mutter etwas gutes für mich auszurichten, und mich von diesem Mann zu er- lösen suchen wird. Alsdenn werde ich Lust ha- ben, dergleichen Betrachtungen über die Sitten der Menschen anzustellen, als mir vorhin aus der Feder fielen. Wenn sie aber auch nichts ausrichtet, so will ich aus Gehorsam gegen Jh- ren Befehl dennoch bey Gelegenheit mit auf- schreiben, was mir von dergleichen Gedancken beyfällt. Denn wenn ich auch in viel betrüb- tern Umständen nichts von dieser Art in meine Briefe einfliessen liesse, so würde es scheinen, als schriebe ich meine Briefe blos aus Eigenliebe, und nicht um dem Verlangen einer so werthen Freundin zu Diensten zu seyn. Jch könnte zwar zur Entschuldigung anbringen, daß dis sehr natürlich sey: allein ist nicht selbst dieses natürliche schon ein Fehler, wenn es uns hindert, einer Freundin eine Gefälligkeit zu erweisen, und uns selbst schrifftlich eine Lehre zu geben.
Der
N 4
der Clariſſa.
richtiger iſt als man denckt: denn die Welt ur- theilt nach dem Gefuͤhl, und die, welche ſich am meiſten uͤber die Tadelſuch der Welt beſchweren, moͤchten lieber in ſich als auſſer ſich die Urſache aufſuchen, warum ſie getadelt werden.
Das Hertz iſt mir leichter geworden, weil ich ſahe, daß meine Mutter etwas gutes fuͤr mich auszurichten, und mich von dieſem Mann zu er- loͤſen ſuchen wird. Alsdenn werde ich Luſt ha- ben, dergleichen Betrachtungen uͤber die Sitten der Menſchen anzuſtellen, als mir vorhin aus der Feder fielen. Wenn ſie aber auch nichts ausrichtet, ſo will ich aus Gehorſam gegen Jh- ren Befehl dennoch bey Gelegenheit mit auf- ſchreiben, was mir von dergleichen Gedancken beyfaͤllt. Denn wenn ich auch in viel betruͤb- tern Umſtaͤnden nichts von dieſer Art in meine Briefe einflieſſen lieſſe, ſo wuͤrde es ſcheinen, als ſchriebe ich meine Briefe blos aus Eigenliebe, und nicht um dem Verlangen einer ſo werthen Freundin zu Dienſten zu ſeyn. Jch koͤnnte zwar zur Entſchuldigung anbringen, daß dis ſehr natuͤrlich ſey: allein iſt nicht ſelbſt dieſes natuͤrliche ſchon ein Fehler, wenn es uns hindert, einer Freundin eine Gefaͤlligkeit zu erweiſen, und uns ſelbſt ſchrifftlich eine Lehre zu geben.
Der
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der Clariſſa.
richtiger iſt als man denckt: denn die Welt ur-
theilt nach dem Gefuͤhl, und die, welche ſich am
meiſten uͤber die Tadelſuch der Welt beſchweren,
moͤchten lieber in ſich als auſſer ſich die Urſache
aufſuchen, warum ſie getadelt werden.
Das Hertz iſt mir leichter geworden, weil ich
ſahe, daß meine Mutter etwas gutes fuͤr mich
auszurichten, und mich von dieſem Mann zu er-
loͤſen ſuchen wird. Alsdenn werde ich Luſt ha-
ben, dergleichen Betrachtungen uͤber die Sitten
der Menſchen anzuſtellen, als mir vorhin aus
der Feder fielen. Wenn ſie aber auch nichts
ausrichtet, ſo will ich aus Gehorſam gegen Jh-
ren Befehl dennoch bey Gelegenheit mit auf-
ſchreiben, was mir von dergleichen Gedancken
beyfaͤllt. Denn wenn ich auch in viel betruͤb-
tern Umſtaͤnden nichts von dieſer Art in meine
Briefe einflieſſen lieſſe, ſo wuͤrde es ſcheinen, als
ſchriebe ich meine Briefe blos aus Eigenliebe,
und nicht um dem Verlangen einer ſo werthen
Freundin zu Dienſten zu ſeyn. Jch koͤnnte
zwar zur Entſchuldigung anbringen, daß dis
ſehr natuͤrlich ſey: allein iſt nicht ſelbſt dieſes
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/219>, abgerufen am 21.11.2024.
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