wenigstens nach ihrer Absicht: denn als sie dis Mitleiden empfand, ließ sie sich noch gar nicht einfallen, daß er seine Bitte nicht abermals an- bringen würde.
Er wartete meiner Mutter noch auf, und klagte ihr sein Unglück mit vieler Ehrerbietung, so wohl gegen meine Schwester, als die gantze Fa- milie, und ließ eine rechte starke Bekümmerniß darüber blicken, daß er nicht das Glück haben sollte, mit ihr näher verbunden zu werden. Die- ses machte bey allen einen ihm vortheilhaften Eindruck, denn mein Bruder war damals noch in Schottland: und man glaubte, er werde sein Gewerbe abermahls anzubringen suchen. Als aber Herr Lovelace gleich nach London reise- te, und sich daselbst vierzehn Tage aufhielt, auch gegen meinen Vaters Bruder Anton/ den er dort antraf, sich wegen des ihm betrübten Ent- schlusses meiner Schwester, unverheyrathet zu blei- ben, beklagte; so sahe man wohl, daß in der Sa- che weiter nichts zu thun seyn würde.
Bey dieser Gelegenheit vergaß meine Schwe- ster nichts, sich in den Vortheil zu setzen, und sie machte aus der Noth eine Tugend. Der Mensch war nun in ihren Augen ein ganz anderer Mensch geworden "ein eingebildeter Mensch! der seine "eigene Vorzüge mehr als zu wohl kenne, und "doch wären diese seine gute Eigenschaften bey "weiten nicht so groß, als sie zu Anfang gehof- "fet hätte. Er wäre bald kalt, bald warm, und "seine Liebe wäre einem Fieber sehr ähnlich.
Ein
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der Clariſſa.
wenigſtens nach ihrer Abſicht: denn als ſie dis Mitleiden empfand, ließ ſie ſich noch gar nicht einfallen, daß er ſeine Bitte nicht abermals an- bringen wuͤrde.
Er wartete meiner Mutter noch auf, und klagte ihr ſein Ungluͤck mit vieler Ehrerbietung, ſo wohl gegen meine Schweſter, als die gantze Fa- milie, und ließ eine rechte ſtarke Bekuͤmmerniß daruͤber blicken, daß er nicht das Gluͤck haben ſollte, mit ihr naͤher verbunden zu werden. Die- ſes machte bey allen einen ihm vortheilhaften Eindruck, denn mein Bruder war damals noch in Schottland: und man glaubte, er werde ſein Gewerbe abermahls anzubringen ſuchen. Als aber Herr Lovelace gleich nach London reiſe- te, und ſich daſelbſt vierzehn Tage aufhielt, auch gegen meinen Vaters Bruder Anton/ den er dort antraf, ſich wegen des ihm betruͤbten Ent- ſchluſſes meiner Schweſter, unverheyrathet zu blei- ben, beklagte; ſo ſahe man wohl, daß in der Sa- che weiter nichts zu thun ſeyn wuͤrde.
Bey dieſer Gelegenheit vergaß meine Schwe- ſter nichts, ſich in den Vortheil zu ſetzen, und ſie machte aus der Noth eine Tugend. Der Menſch war nun in ihren Augen ein ganz anderer Menſch geworden „ein eingebildeter Menſch! der ſeine „eigene Vorzuͤge mehr als zu wohl kenne, und „doch waͤren dieſe ſeine gute Eigenſchaften bey „weiten nicht ſo groß, als ſie zu Anfang gehof- „fet haͤtte. Er waͤre bald kalt, bald warm, und „ſeine Liebe waͤre einem Fieber ſehr aͤhnlich.
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der Clariſſa.
wenigſtens nach ihrer Abſicht: denn als ſie dis
Mitleiden empfand, ließ ſie ſich noch gar nicht
einfallen, daß er ſeine Bitte nicht abermals an-
bringen wuͤrde.
Er wartete meiner Mutter noch auf, und
klagte ihr ſein Ungluͤck mit vieler Ehrerbietung, ſo
wohl gegen meine Schweſter, als die gantze Fa-
milie, und ließ eine rechte ſtarke Bekuͤmmerniß
daruͤber blicken, daß er nicht das Gluͤck haben
ſollte, mit ihr naͤher verbunden zu werden. Die-
ſes machte bey allen einen ihm vortheilhaften
Eindruck, denn mein Bruder war damals noch
in Schottland: und man glaubte, er werde ſein
Gewerbe abermahls anzubringen ſuchen. Als
aber Herr Lovelace gleich nach London reiſe-
te, und ſich daſelbſt vierzehn Tage aufhielt, auch
gegen meinen Vaters Bruder Anton/ den er
dort antraf, ſich wegen des ihm betruͤbten Ent-
ſchluſſes meiner Schweſter, unverheyrathet zu blei-
ben, beklagte; ſo ſahe man wohl, daß in der Sa-
che weiter nichts zu thun ſeyn wuͤrde.
Bey dieſer Gelegenheit vergaß meine Schwe-
ſter nichts, ſich in den Vortheil zu ſetzen, und ſie
machte aus der Noth eine Tugend. Der Menſch
war nun in ihren Augen ein ganz anderer Menſch
geworden „ein eingebildeter Menſch! der ſeine
„eigene Vorzuͤge mehr als zu wohl kenne, und
„doch waͤren dieſe ſeine gute Eigenſchaften bey
„weiten nicht ſo groß, als ſie zu Anfang gehof-
„fet haͤtte. Er waͤre bald kalt, bald warm, und
„ſeine Liebe waͤre einem Fieber ſehr aͤhnlich.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/39>, abgerufen am 23.11.2024.
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