Wir haben über der vorhin erwähnten Frage bey der letzten Zusammenkunft einen scharfen Streit gehabt; und die Fräulein Lloyd verlangte, daß ich Sie um Jhre Meinung, die wir immer für eine Entscheidung zu halten pflegten, befragen möchte Jch will nicht hoffen, daß Sie so mit wich- tigern Sorgen überhäuft sind, daß Sie entweder keine Zeit oder keine Lust übrig behalten, diese Ar- beit aus Gefälligkeit gegen eine Freundin zu über- nehmen. Sie wissen, wie sehr wir Jhren Aus- spruch über dergleichen Fragen zu bewundern pfle- gen, der immer etwas unerwartetes und etwas Lehr-reiches zu enthalten pflegt. Sagen Sie uns doch auch Jhre Meinung darüber, warum Jhr Anbeter sein von der Natur schon genug geschmück- tes Ansehen noch auf allerley Art zu schmücken sucht, und es doch so klug anfängt, daß ihn nie- mand für einen Stutzer ausgeben kan? Jch wün- sche, daß diese Frage nebst der Jhnen aufgegebe- nen Arbeit Jhnen zum Vergnügen und nicht zur Beschwerde gereichen mag. Eine eintzige Sache, sie mag so wichtig seyn als sie will, wird doch nie Jhr gantzes Gemüth beschäftigen. Wenn ich Jh- nen aber auch Beschwerde verursachen sollte, so er- innern Sie sich, wie oft Sie mir eine Grobheit vergeben haben, und sagen Sie einmahl im Un- willen: es ist ein abgeschmacktes Mädchen; und ich habe sie doch lieb, sie bleibt doch meine
Anna Howe.
Der
der Clariſſa.
Wir haben uͤber der vorhin erwaͤhnten Frage bey der letzten Zuſammenkunft einen ſcharfen Streit gehabt; und die Fraͤulein Lloyd verlangte, daß ich Sie um Jhre Meinung, die wir immer fuͤr eine Entſcheidung zu halten pflegten, befragen moͤchte Jch will nicht hoffen, daß Sie ſo mit wich- tigern Sorgen uͤberhaͤuft ſind, daß Sie entweder keine Zeit oder keine Luſt uͤbrig behalten, dieſe Ar- beit aus Gefaͤlligkeit gegen eine Freundin zu uͤber- nehmen. Sie wiſſen, wie ſehr wir Jhren Aus- ſpruch uͤber dergleichen Fragen zu bewundern pfle- gen, der immer etwas unerwartetes und etwas Lehr-reiches zu enthalten pflegt. Sagen Sie uns doch auch Jhre Meinung daruͤber, warum Jhr Anbeter ſein von der Natur ſchon genug geſchmuͤck- tes Anſehen noch auf allerley Art zu ſchmuͤcken ſucht, und es doch ſo klug anfaͤngt, daß ihn nie- mand fuͤr einen Stutzer ausgeben kan? Jch wuͤn- ſche, daß dieſe Frage nebſt der Jhnen aufgegebe- nen Arbeit Jhnen zum Vergnuͤgen und nicht zur Beſchwerde gereichen mag. Eine eintzige Sache, ſie mag ſo wichtig ſeyn als ſie will, wird doch nie Jhr gantzes Gemuͤth beſchaͤftigen. Wenn ich Jh- nen aber auch Beſchwerde verurſachen ſollte, ſo er- innern Sie ſich, wie oft Sie mir eine Grobheit vergeben haben, und ſagen Sie einmahl im Un- willen: es iſt ein abgeſchmacktes Maͤdchen; und ich habe ſie doch lieb, ſie bleibt doch meine
Anna Howe.
Der
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der Clariſſa.
Wir haben uͤber der vorhin erwaͤhnten Frage
bey der letzten Zuſammenkunft einen ſcharfen
Streit gehabt; und die Fraͤulein Lloyd verlangte,
daß ich Sie um Jhre Meinung, die wir immer
fuͤr eine Entſcheidung zu halten pflegten, befragen
moͤchte Jch will nicht hoffen, daß Sie ſo mit wich-
tigern Sorgen uͤberhaͤuft ſind, daß Sie entweder
keine Zeit oder keine Luſt uͤbrig behalten, dieſe Ar-
beit aus Gefaͤlligkeit gegen eine Freundin zu uͤber-
nehmen. Sie wiſſen, wie ſehr wir Jhren Aus-
ſpruch uͤber dergleichen Fragen zu bewundern pfle-
gen, der immer etwas unerwartetes und etwas
Lehr-reiches zu enthalten pflegt. Sagen Sie uns
doch auch Jhre Meinung daruͤber, warum Jhr
Anbeter ſein von der Natur ſchon genug geſchmuͤck-
tes Anſehen noch auf allerley Art zu ſchmuͤcken
ſucht, und es doch ſo klug anfaͤngt, daß ihn nie-
mand fuͤr einen Stutzer ausgeben kan? Jch wuͤn-
ſche, daß dieſe Frage nebſt der Jhnen aufgegebe-
nen Arbeit Jhnen zum Vergnuͤgen und nicht zur
Beſchwerde gereichen mag. Eine eintzige Sache,
ſie mag ſo wichtig ſeyn als ſie will, wird doch nie
Jhr gantzes Gemuͤth beſchaͤftigen. Wenn ich Jh-
nen aber auch Beſchwerde verurſachen ſollte, ſo er-
innern Sie ſich, wie oft Sie mir eine Grobheit
vergeben haben, und ſagen Sie einmahl im Un-
willen: es iſt ein abgeſchmacktes Maͤdchen;
und ich habe ſie doch lieb, ſie bleibt doch
meine
Anna Howe.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/447>, abgerufen am 24.11.2024.
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