ein edles und offenes Hertz, da ihm Menschen- Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen Mann macht, gäntzlich mangelt. Wie viel Ge- duld, wie viel Großmuth müßte ein Frauenzim- mer haben, wenn sie ihren Mann nicht verach- ten sollte, der noch unwissender, noch unbelesener, und noch niederträchtiger wäre, als sie sich selbst schätzen kan? Der elende Tropf soll Herr im Hause heissen, und hat das Recht, das Haupt der gantzen Familie zu seyn! Wenn die Frau seine Rechte kräncket, so bringet es der hersch- süchtigen Frau eben so wenig Ehre als dem ge- horsamen Manne! Wie kann ein solcher Mann einer vernünftigen Frauen erträglich seyn, wenn sie auch aus Absicht auf ihren Vortheil ihn selbst gewählet hätte? Allein, wenn man gar gezwun- gen, und noch dazu aus solchen Ursachen, deren sich der zwingende und der leidende Theil schä- men müssen, gezwungen wird einensolchen Mann zu nehmen; so ist es gantz ohnmöglich, einen so gerechten Widerwillen zu überwinden. Wie viel leichter ist es mir, die überhingehenden Widrig- keiten zu ertragen, die ich jetzt auszustehen habe, als mein gantzes Leben einem solchen Manne auf- zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, so müste ich die Gesellschaft der Meinigen verlassen, und mich mit seinem Umgange befriedigen. Ein eintziger betrübter Monath steht mir etwan be- vor, wenn ich auf der abschlägigen Antwort be- harre: allein wenn ich Ja sage, so sehe ich ein gantzes Leben voll Wehe und Unglück vor mir;
und
G 4
der Clariſſa.
ein edles und offenes Hertz, da ihm Menſchen- Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen Mann macht, gaͤntzlich mangelt. Wie viel Ge- duld, wie viel Großmuth muͤßte ein Frauenzim- mer haben, wenn ſie ihren Mann nicht verach- ten ſollte, der noch unwiſſender, noch unbeleſener, und noch niedertraͤchtiger waͤre, als ſie ſich ſelbſt ſchaͤtzen kan? Der elende Tropf ſoll Herr im Hauſe heiſſen, und hat das Recht, das Haupt der gantzen Familie zu ſeyn! Wenn die Frau ſeine Rechte kraͤncket, ſo bringet es der herſch- ſuͤchtigen Frau eben ſo wenig Ehre als dem ge- horſamen Manne! Wie kann ein ſolcher Mann einer vernuͤnftigen Frauen ertraͤglich ſeyn, wenn ſie auch aus Abſicht auf ihren Vortheil ihn ſelbſt gewaͤhlet haͤtte? Allein, wenn man gar gezwun- gen, und noch dazu aus ſolchen Urſachen, deren ſich der zwingende und der leidende Theil ſchaͤ- men muͤſſen, gezwungen wird einenſolchen Mann zu nehmen; ſo iſt es gantz ohnmoͤglich, einen ſo gerechten Widerwillen zu uͤberwinden. Wie viel leichter iſt es mir, die uͤberhingehenden Widrig- keiten zu ertragen, die ich jetzt auszuſtehen habe, als mein gantzes Leben einem ſolchen Manne auf- zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, ſo muͤſte ich die Geſellſchaft der Meinigen verlaſſen, und mich mit ſeinem Umgange befriedigen. Ein eintziger betruͤbter Monath ſteht mir etwan be- vor, wenn ich auf der abſchlaͤgigen Antwort be- harre: allein wenn ich Ja ſage, ſo ſehe ich ein gantzes Leben voll Wehe und Ungluͤck vor mir;
und
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der Clariſſa.
ein edles und offenes Hertz, da ihm Menſchen-
Liebe, gute Sitten, und alles das, was einen
Mann macht, gaͤntzlich mangelt. Wie viel Ge-
duld, wie viel Großmuth muͤßte ein Frauenzim-
mer haben, wenn ſie ihren Mann nicht verach-
ten ſollte, der noch unwiſſender, noch unbeleſener,
und noch niedertraͤchtiger waͤre, als ſie ſich ſelbſt
ſchaͤtzen kan? Der elende Tropf ſoll Herr im
Hauſe heiſſen, und hat das Recht, das Haupt
der gantzen Familie zu ſeyn! Wenn die Frau
ſeine Rechte kraͤncket, ſo bringet es der herſch-
ſuͤchtigen Frau eben ſo wenig Ehre als dem ge-
horſamen Manne! Wie kann ein ſolcher Mann
einer vernuͤnftigen Frauen ertraͤglich ſeyn, wenn
ſie auch aus Abſicht auf ihren Vortheil ihn ſelbſt
gewaͤhlet haͤtte? Allein, wenn man gar gezwun-
gen, und noch dazu aus ſolchen Urſachen, deren
ſich der zwingende und der leidende Theil ſchaͤ-
men muͤſſen, gezwungen wird einenſolchen Mann
zu nehmen; ſo iſt es gantz ohnmoͤglich, einen ſo
gerechten Widerwillen zu uͤberwinden. Wie viel
leichter iſt es mir, die uͤberhingehenden Widrig-
keiten zu ertragen, die ich jetzt auszuſtehen habe,
als mein gantzes Leben einem ſolchen Manne auf-
zuopfern! Wenn ich mich bequemen wollte, ſo
muͤſte ich die Geſellſchaft der Meinigen verlaſſen,
und mich mit ſeinem Umgange befriedigen. Ein
eintziger betruͤbter Monath ſteht mir etwan be-
vor, wenn ich auf der abſchlaͤgigen Antwort be-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/109>, abgerufen am 21.11.2024.
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