"hin in den Augen der kaltsinnigen Welt be- "saß."
"Die eingebildeten Vorzüge der verliebten "Personen verschwinden mit der Zeit: die Natur "und Gewohnheit lassen sich nicht immer zurück "halten, sondern kommen endlich an den Tag. "Wenn die Vorstellung aufhört, so sieht man "alle Flecken aneinander: und es ist noch sehr "gut, wenn einer in den Augen des andern nicht "um eben so viel schlechter und verächtlicher ist, "als er in den Augen der Welt ist, um so viel "vorhin seine Vorzüge dem Verliebten grösser "als andern Leuten geschienen hatten. Das "verliebte Paar, das sonst kein Vergnügen fin- "den konnte, als in dem Umgange mit dem Ge- "liebten, das niemahls aus einander gieng, ohne "daß es sich nicht noch etwas sollte zu sagen ha- "ben, das niemahls ausredete, und immer etwas "zu sagen vergaß: findet nun die angenehme "Veränderung in seinem Umgange bey weiten "nicht, auf die es sich Hofnung machte, da es "dieses Glück noch selten genoß, und sich nur "wünschte, es unausgesetzt zu geniessen. Es sucht "nun lauter andere Ergötzungen, unter denen öf- "ters die die angenehmsten sind, die der andere "Theil nicht mit geniesset." Hätten Sie wohl geglaubt, daß meine Mutter ihren Unterricht mit einer so neumodischen Anmerckung beschlies- sen würde?
Jch sagte ihr: wenn Sie einen übereilten Schritt thäten, so wären die Jhrigen durch ihre
Hef-
Die Geſchichte
„hin in den Augen der kaltſinnigen Welt be- „ſaß.„
„Die eingebildeten Vorzuͤge der verliebten „Perſonen verſchwinden mit der Zeit: die Natur „und Gewohnheit laſſen ſich nicht immer zuruͤck „halten, ſondern kommen endlich an den Tag. „Wenn die Vorſtellung aufhoͤrt, ſo ſieht man „alle Flecken aneinander: und es iſt noch ſehr „gut, wenn einer in den Augen des andern nicht „um eben ſo viel ſchlechter und veraͤchtlicher iſt, „als er in den Augen der Welt iſt, um ſo viel „vorhin ſeine Vorzuͤge dem Verliebten groͤſſer „als andern Leuten geſchienen hatten. Das „verliebte Paar, das ſonſt kein Vergnuͤgen fin- „den konnte, als in dem Umgange mit dem Ge- „liebten, das niemahls aus einander gieng, ohne „daß es ſich nicht noch etwas ſollte zu ſagen ha- „ben, das niemahls ausredete, und immer etwas „zu ſagen vergaß: findet nun die angenehme „Veraͤnderung in ſeinem Umgange bey weiten „nicht, auf die es ſich Hofnung machte, da es „dieſes Gluͤck noch ſelten genoß, und ſich nur „wuͤnſchte, es unausgeſetzt zu genieſſen. Es ſucht „nun lauter andere Ergoͤtzungen, unter denen oͤf- „ters die die angenehmſten ſind, die der andere „Theil nicht mit genieſſet.„ Haͤtten Sie wohl geglaubt, daß meine Mutter ihren Unterricht mit einer ſo neumodiſchen Anmerckung beſchlieſ- ſen wuͤrde?
Jch ſagte ihr: wenn Sie einen uͤbereilten Schritt thaͤten, ſo waͤren die Jhrigen durch ihre
Hef-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0126"n="120"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/>„hin in den Augen der kaltſinnigen Welt be-<lb/>„ſaß.„</p><lb/><p>„Die eingebildeten Vorzuͤge der verliebten<lb/>„Perſonen verſchwinden mit der Zeit: die Natur<lb/>„und Gewohnheit laſſen ſich nicht immer zuruͤck<lb/>„halten, ſondern kommen endlich an den Tag.<lb/>„Wenn die Vorſtellung aufhoͤrt, ſo ſieht man<lb/>„alle Flecken aneinander: und es iſt noch ſehr<lb/>„gut, wenn einer in den Augen des andern nicht<lb/>„um eben ſo viel ſchlechter und veraͤchtlicher iſt,<lb/>„als er in den Augen der Welt iſt, um ſo viel<lb/>„vorhin ſeine Vorzuͤge dem Verliebten groͤſſer<lb/>„als andern Leuten geſchienen hatten. Das<lb/>„verliebte Paar, das ſonſt kein Vergnuͤgen fin-<lb/>„den konnte, als in dem Umgange mit dem Ge-<lb/>„liebten, das niemahls aus einander gieng, ohne<lb/>„daß es ſich nicht noch etwas ſollte zu ſagen ha-<lb/>„ben, das niemahls ausredete, und immer etwas<lb/>„zu ſagen vergaß: findet nun die angenehme<lb/>„Veraͤnderung in ſeinem Umgange bey weiten<lb/>„nicht, auf die es ſich Hofnung machte, da es<lb/>„dieſes Gluͤck noch ſelten genoß, und ſich nur<lb/>„wuͤnſchte, es unausgeſetzt zu genieſſen. Es ſucht<lb/>„nun lauter andere Ergoͤtzungen, unter denen oͤf-<lb/>„ters die die angenehmſten ſind, die der andere<lb/>„Theil nicht mit genieſſet.„ Haͤtten Sie wohl<lb/>
geglaubt, daß meine Mutter ihren Unterricht<lb/>
mit einer ſo neumodiſchen Anmerckung beſchlieſ-<lb/>ſen wuͤrde?</p><lb/><p>Jch ſagte ihr: wenn Sie einen uͤbereilten<lb/>
Schritt thaͤten, ſo waͤren die Jhrigen durch ihre<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Hef-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[120/0126]
Die Geſchichte
„hin in den Augen der kaltſinnigen Welt be-
„ſaß.„
„Die eingebildeten Vorzuͤge der verliebten
„Perſonen verſchwinden mit der Zeit: die Natur
„und Gewohnheit laſſen ſich nicht immer zuruͤck
„halten, ſondern kommen endlich an den Tag.
„Wenn die Vorſtellung aufhoͤrt, ſo ſieht man
„alle Flecken aneinander: und es iſt noch ſehr
„gut, wenn einer in den Augen des andern nicht
„um eben ſo viel ſchlechter und veraͤchtlicher iſt,
„als er in den Augen der Welt iſt, um ſo viel
„vorhin ſeine Vorzuͤge dem Verliebten groͤſſer
„als andern Leuten geſchienen hatten. Das
„verliebte Paar, das ſonſt kein Vergnuͤgen fin-
„den konnte, als in dem Umgange mit dem Ge-
„liebten, das niemahls aus einander gieng, ohne
„daß es ſich nicht noch etwas ſollte zu ſagen ha-
„ben, das niemahls ausredete, und immer etwas
„zu ſagen vergaß: findet nun die angenehme
„Veraͤnderung in ſeinem Umgange bey weiten
„nicht, auf die es ſich Hofnung machte, da es
„dieſes Gluͤck noch ſelten genoß, und ſich nur
„wuͤnſchte, es unausgeſetzt zu genieſſen. Es ſucht
„nun lauter andere Ergoͤtzungen, unter denen oͤf-
„ters die die angenehmſten ſind, die der andere
„Theil nicht mit genieſſet.„ Haͤtten Sie wohl
geglaubt, daß meine Mutter ihren Unterricht
mit einer ſo neumodiſchen Anmerckung beſchlieſ-
ſen wuͤrde?
Jch ſagte ihr: wenn Sie einen uͤbereilten
Schritt thaͤten, ſo waͤren die Jhrigen durch ihre
Hef-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/126>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.