nicht erbrechen. Der lügenhafte Mensch! der über Heisrigkeit klagen darf! Vielleicht hat er um Mitternacht zu viel mit seiner wilden Sän- gerin gesungen; und der Gang durch den Wald hat die Heisrigkeit nur vermehret.
Nun hat er schon eine, die er mit mir auf die Wage setzt. Jch verachte ihn so viel ich kan; und ich bin auf mich selbst unwillig, daß ich so viel von ihm und von dem einfältigen artigen angenehmen Mädchen schreibe. Kan ein Mäd- chen auch wol ohne Tugend artig und ange- nehm seyn?
Der niederträchtige Jacob Lehmann hat Elisabeth unter der Hand gesagt, und sie hat mir es wieder erzählt: Lovelace habe sich seit eini- ger Zeit an einem benachbarten Orte in Ver- kleidung sehen lassen, und man würde auf die Spur kommen, daß er ein sehr liederlicher Mensch wäre. Er wollte sich weiter erkundigen, ehe er ihr mehr sagte. Und sie versprach, es heimlich zu halten, in Hoffnung, daß er noch mehr er- fahren würde. Jch hielt daher für zuträglich, Sie zu ersuchen, daß Sie so viel Nachrichten, als möglich ist, einziehen möchten. Jch sehe nun, daß seine Feinde mehr als zu viel Recht haben, übel von ihm zu reden. Wenn er dieses arme Kind zu verführen sucht, und es vorhin noch nicht gekannt hat, so habe ich doppelte Ursache, das Mädchen zu bedauren und ihn zu verabscheuen. Jch dencke, daß ich ihn noch ärger hasse als selb- sten Solmes. Jch will aber kein Wort wei-
ter
Die Geſchichte
nicht erbrechen. Der luͤgenhafte Menſch! der uͤber Heiſrigkeit klagen darf! Vielleicht hat er um Mitternacht zu viel mit ſeiner wilden Saͤn- gerin geſungen; und der Gang durch den Wald hat die Heiſrigkeit nur vermehret.
Nun hat er ſchon eine, die er mit mir auf die Wage ſetzt. Jch verachte ihn ſo viel ich kan; und ich bin auf mich ſelbſt unwillig, daß ich ſo viel von ihm und von dem einfaͤltigen artigen angenehmen Maͤdchen ſchreibe. Kan ein Maͤd- chen auch wol ohne Tugend artig und ange- nehm ſeyn?
Der niedertraͤchtige Jacob Lehmann hat Eliſabeth unter der Hand geſagt, und ſie hat mir es wieder erzaͤhlt: Lovelace habe ſich ſeit eini- ger Zeit an einem benachbarten Orte in Ver- kleidung ſehen laſſen, und man wuͤrde auf die Spur kommen, daß er ein ſehr liederlicher Menſch waͤre. Er wollte ſich weiter erkundigen, ehe er ihr mehr ſagte. Und ſie verſprach, es heimlich zu halten, in Hoffnung, daß er noch mehr er- fahren wuͤrde. Jch hielt daher fuͤr zutraͤglich, Sie zu erſuchen, daß Sie ſo viel Nachrichten, als moͤglich iſt, einziehen moͤchten. Jch ſehe nun, daß ſeine Feinde mehr als zu viel Recht haben, uͤbel von ihm zu reden. Wenn er dieſes arme Kind zu verfuͤhren ſucht, und es vorhin noch nicht gekannt hat, ſo habe ich doppelte Urſache, das Maͤdchen zu bedauren und ihn zu verabſcheuen. Jch dencke, daß ich ihn noch aͤrger haſſe als ſelb- ſten Solmes. Jch will aber kein Wort wei-
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Die Geſchichte
nicht erbrechen. Der luͤgenhafte Menſch! der
uͤber Heiſrigkeit klagen darf! Vielleicht hat er
um Mitternacht zu viel mit ſeiner wilden Saͤn-
gerin geſungen; und der Gang durch den Wald
hat die Heiſrigkeit nur vermehret.
Nun hat er ſchon eine, die er mit mir auf die
Wage ſetzt. Jch verachte ihn ſo viel ich kan;
und ich bin auf mich ſelbſt unwillig, daß ich ſo
viel von ihm und von dem einfaͤltigen artigen
angenehmen Maͤdchen ſchreibe. Kan ein Maͤd-
chen auch wol ohne Tugend artig und ange-
nehm ſeyn?
Der niedertraͤchtige Jacob Lehmann hat
Eliſabeth unter der Hand geſagt, und ſie hat mir
es wieder erzaͤhlt: Lovelace habe ſich ſeit eini-
ger Zeit an einem benachbarten Orte in Ver-
kleidung ſehen laſſen, und man wuͤrde auf die
Spur kommen, daß er ein ſehr liederlicher Menſch
waͤre. Er wollte ſich weiter erkundigen, ehe er
ihr mehr ſagte. Und ſie verſprach, es heimlich
zu halten, in Hoffnung, daß er noch mehr er-
fahren wuͤrde. Jch hielt daher fuͤr zutraͤglich,
Sie zu erſuchen, daß Sie ſo viel Nachrichten,
als moͤglich iſt, einziehen moͤchten. Jch ſehe nun,
daß ſeine Feinde mehr als zu viel Recht haben,
uͤbel von ihm zu reden. Wenn er dieſes arme
Kind zu verfuͤhren ſucht, und es vorhin noch nicht
gekannt hat, ſo habe ich doppelte Urſache, das
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/258>, abgerufen am 22.11.2024.
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