Mich dünckte: mein Onckle Anton/ Herr Solmes und mein Bruder hatten sich mit ein- ander verschworen, Herrn Lovelace aus dem Wege zu räumen. Er entdeckte ihre Anschlä- ge, und weil er meinte, daß ich mit darum wüß- te, so wandte er seine gantze Wuth gegen mich. Es kam mir vor, als wenn sie alle drey das Land vor ihm räumen müßten: er nahm mich dar- auf und führte mich auf den Kirchhof. So viel ich auch bat, und weinete, und mich auf mei- ne Unschuld berief, half es doch alles nichts. Er stach mich durch das Hertz, stürtzte mich in ein neu aufgegrabenes Grab, zwischen etliche halb- verfaulte Leichen; warf Erde und Koth auf mich, und trat mich mit den Füssen nieder.
Jch wachte mit Schrecken und Zittern auf, gantz mit kaltem Schweiß begossen, und wollte fast ohnmächtig werden. Das fürchterliche Bild schwebt mir noch immer vor den Augen.
Allein warum soll ich mir mit einem einge- bildeten Unglück zu thun machen, da ich so reich an wahrhaftem Unglück bin? Meine verwor- rene Einbildungskraft ist an solchen Träumen schuld, die alles fürchterliche, was ich von mei- ner Base gehört habe, mit meinem Briefe an Lovelacen/ mit meiner Unruhe über diesen Brief, und mit meiner Furcht vor dem künfti- gen Mittewochen verbindet.
Der
Zweyter Theil. E e
der Clariſſa.
Mich duͤnckte: mein Onckle Anton/ Herr Solmes und mein Bruder hatten ſich mit ein- ander verſchworen, Herrn Lovelace aus dem Wege zu raͤumen. Er entdeckte ihre Anſchlaͤ- ge, und weil er meinte, daß ich mit darum wuͤß- te, ſo wandte er ſeine gantze Wuth gegen mich. Es kam mir vor, als wenn ſie alle drey das Land vor ihm raͤumen muͤßten: er nahm mich dar- auf und fuͤhrte mich auf den Kirchhof. So viel ich auch bat, und weinete, und mich auf mei- ne Unſchuld berief, half es doch alles nichts. Er ſtach mich durch das Hertz, ſtuͤrtzte mich in ein neu aufgegrabenes Grab, zwiſchen etliche halb- verfaulte Leichen; warf Erde und Koth auf mich, und trat mich mit den Fuͤſſen nieder.
Jch wachte mit Schrecken und Zittern auf, gantz mit kaltem Schweiß begoſſen, und wollte faſt ohnmaͤchtig werden. Das fuͤrchterliche Bild ſchwebt mir noch immer vor den Augen.
Allein warum ſoll ich mir mit einem einge- bildeten Ungluͤck zu thun machen, da ich ſo reich an wahrhaftem Ungluͤck bin? Meine verwor- rene Einbildungskraft iſt an ſolchen Traͤumen ſchuld, die alles fuͤrchterliche, was ich von mei- ner Baſe gehoͤrt habe, mit meinem Briefe an Lovelacen/ mit meiner Unruhe uͤber dieſen Brief, und mit meiner Furcht vor dem kuͤnfti- gen Mittewochen verbindet.
Der
Zweyter Theil. E e
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der Clariſſa.
Mich duͤnckte: mein Onckle Anton/ Herr
Solmes und mein Bruder hatten ſich mit ein-
ander verſchworen, Herrn Lovelace aus dem
Wege zu raͤumen. Er entdeckte ihre Anſchlaͤ-
ge, und weil er meinte, daß ich mit darum wuͤß-
te, ſo wandte er ſeine gantze Wuth gegen mich.
Es kam mir vor, als wenn ſie alle drey das Land
vor ihm raͤumen muͤßten: er nahm mich dar-
auf und fuͤhrte mich auf den Kirchhof. So
viel ich auch bat, und weinete, und mich auf mei-
ne Unſchuld berief, half es doch alles nichts. Er
ſtach mich durch das Hertz, ſtuͤrtzte mich in ein
neu aufgegrabenes Grab, zwiſchen etliche halb-
verfaulte Leichen; warf Erde und Koth auf mich,
und trat mich mit den Fuͤſſen nieder.
Jch wachte mit Schrecken und Zittern auf,
gantz mit kaltem Schweiß begoſſen, und wollte
faſt ohnmaͤchtig werden. Das fuͤrchterliche
Bild ſchwebt mir noch immer vor den Augen.
Allein warum ſoll ich mir mit einem einge-
bildeten Ungluͤck zu thun machen, da ich ſo reich
an wahrhaftem Ungluͤck bin? Meine verwor-
rene Einbildungskraft iſt an ſolchen Traͤumen
ſchuld, die alles fuͤrchterliche, was ich von mei-
ner Baſe gehoͤrt habe, mit meinem Briefe an
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Brief, und mit meiner Furcht vor dem kuͤnfti-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/439>, abgerufen am 22.11.2024.
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